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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0287
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Stellenkommentar JGB 34, KSA 5, S. 53 267

53, 4-8 Der Glaube an „unmittelbare Gewissheiten“ ist eine moralische Nai-
vetät, welche uns Philosophen Ehre macht: aber — wir sollen nun einmal nicht
„nur moralische“ Menschen sein! Von der Moral abgesehn, ist jener Glaube eine
Dummheit, die uns wenig Ehre macht!] Vgl. zur Kritik an dem unter N.s Zeitge-
nossen so populären Begriff der „unmittelbaren Gewissheit“ NK 29, 18 f., NK
29, 24-28 u. NK 31, 5-12.
53, 8-17 Mag im bürgerlichen Leben das allzeit bereite Misstrauen als Zeichen
des „schlechten Charakters“ gelten und folglich unter die Unklugheiten gehören:
hier unter uns, jenseits der bürgerlichen Welt und ihres Ja’s und Nein’s, — was
sollte uns hindern, unklug zu sein und zu sagen: der Philosoph hat nachgerade
ein Recht auf „schlechten Charakter“, als das Wesen, welches bisher auf Erden
immer am besten genarrt worden ist, — er hat heute die Pflicht zum Misstrau-
en, zum boshaftesten Schielen aus jedem Abgrunde des Verdachts heraus.] Die
betonte Antibürgerlichkeit des neuen Philosophen, den JGB in Aussicht stellt,
kontrastiert mit der philiströs-bürgerlichen Saturiertheit akademischer Philoso-
phen (vgl. Sommer 2013d), die N. schon früh durch Arthur Schopenhauers Po-
lemik Ueber die Universitäts-Philosophie aus dem ersten Band der Parerga und
Paralipomena (Schopenhauer 1873-1874, 5, 151-212) in grellen Farben vor Au-
gen geführt wurde. In der Dritten unzeitgemässen Betrachtung über Schopen-
hauer als Erzieher griff N. das Modell dieser Polemik direkt auf (vgl. NK 1/2, ÜK
UB III SE). Die gängigen Moralmaßstäbe mit Füßen zu treten, war freilich auch
die erklärte Absicht der französischen Avantgarde- und decadence-Bewegung,
die sich mit ihrer Literatur jenseits der bürgerlichen Norm positionieren wollte
(vgl. z. B. NK KSA 6, 11, 21 f.). Die Polemik gegen diese Tendenzen in Literatur
und Künsten in N.s Spätwerk mag gerade auch in dieser Kongruenz der anti-
bürgerlichen Einstellung begründet sein, hat N.s Abgrenzungs- und Selbstpro-
filierungsbedürfnis doch sichtlich seine Bereitschaft zur Solidarisierung über-
wogen.
In 53,16 findet sich der einzige Beleg einer nicht denunziatorisch-pejorati-
ven Verwendung des Schielens in N.s Werken und Nachlass. Die anderen Stel-
len einer metaphorischen Verwendung des Verbs pflegen es als Signatur cha-
rakterlicher Minderwertigkeit zu benutzen. So heißt es in GM I 10 vom wider-
wärtigen ,,Mensch[en] des Ressentiment“: „Seine Seele schielt“ (KSA 5, 272,
28-30), während die Aufzeichnung NL 1882, KSA 9,17[14], 667,18-20 kundgibt:
„Es muß meinem Auge unmöglich sein, mit schielenden Blicken hin und dahin
zu sehen: sondern immer muß ich den ganzen Kopf mit drehen — so ist es
vornehm.“ In JGB 34 wird dem Philosophen nun explizit das „Recht auf
»schlechten Charakter“4 attestiert und komplementär dazu „die Pflicht zum
Misstrauen, zum boshaftesten Schielen aus jedem Abgrunde des Verdachts he-
 
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