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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0288
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268 Jenseits von Gut und Böse

raus“ - also gerade das, was unter der Voraussetzung der herrschenden bür-
gerlichen Moral als verwerflich gilt. Die Positivierung des Schielens lässt sich
als eine Anspielung auf die ElAAoi oder Sillen, die „schielenden Verse“ des Pyr-
rhoneers Timon von Phleius (ca. 320-230 v. Chr.) verstehen, in denen dieser,
wie N. aus seinen Diogenes-Laertius-Studien wusste, über alle Philosophen-
schulen (mit Ausnahme der skeptischen) satirisch hergezogen war (vgl. Dioge-
nes Laertius: De vitis IX 111 f. = Diogenes Laertius 1807, 2, 229). Schon zu Studi-
enzeiten hatte N., wie aus seinem Briefentwurf an Friedrich Ritschi, vermutlich
vom 29.12.1866, hervorgeht (KSB 2/KGB 1/2, Nr. 530, S. 189, Z. 12 f.), in das
Standardwerk zu Timons Sillen, nämlich Curt Wachsmuths De Timone Phliasio
ceterisque sillographis graecis (Leipzig 1859) Einblick genommen. Wer schielt,
hat immer (mindestens) zwei Perspektiven - er lebt quasi notgedrungen als
Perspektivist, weil er keine seiner beiden Sichtweisen absolut zu setzen ver-
mag. Der Schielende sieht mehr, weil er immer (mindestens) eine doppelte
Sichtweise hat - und er verfügt nicht über eine Zentral- oder Vogelschauper-
spektive, wenn er aus dem „Abgrunde des Verdachts“ heraus blickt. Der Philo-
soph sieht schielend notwendig ander(e)s als der »gewöhnliche Mensch4.
53, 22-31 Es ist nicht mehr als ein moralisches Vorurtheil, dass Wahrheit mehr
werth ist als Schein; es ist sogar die schlechtest bewiesene Annahme, die es in
der Welt giebt. Man gestehe sich doch so viel ein: es bestünde gar kein Leben,
wenn nicht auf dem Grunde perspektivischer Schätzungen und Scheinbarkeiten;
und wollte man, mit der tugendhaften Begeisterung und Tölpelei mancher Philo-
sophen, die „scheinbare Welt“ganz abschaffen, nun, gesetzt, ihr könntet das, —
so bliebe mindestens dabei auch von eurer „Wahrheit“ nichts mehr übrig!] Vgl.
NK 12, 23-26 u. NK KSA 6, 81, 9-11. Im Hintergrund steht die Beschäftigung mit
Teichmüller 1882.
53, 33-54, 2 Genügt es nicht, Stufen der Scheinbarkeit anzunehmen und gleich-
sam hellere und dunklere Schatten und Gesammttöne des Scheins, — verschiede-
ne valeurs, um die Sprache der Maler zu reden?] Zu den „Stufen der Scheinbar-
keit“ vgl. auch Böning 1988, 95 f.; Stegmaier 1992, 321; Hofmann 1994, 247f. u.
Spiekermann 1992, 23 f. im Anschluss an Carl Friedrich von Weizsäcker. In der
Malerei nennt man „valeur“ (eigentlich: Wert) die Abstufung von Farbtönen
sowie von Licht und Schatten (siehe auch NL 1885, KSA 11, 40[32], 645, 4,
entspricht KGW IX 4, W I 7, 58, 20). Über die „valeurs“ in den Werken von
Rubens und Rembrandt hat sich N. in dem von ihm mit zahlreichen Lesespuren
hinterlassenen Werk von Eugene Fromentin: Les maitres d’autrefois kundig ge-
macht; von dort stammt auch sein Definitionswissen her: „Je veux parier de ce
qu’on est convenu d’appeler les valeurs. / On entend par ce mot d’origine assez
vague, de /236/ sens obscur, la quantite de clair ou de sombre qui se trouve
 
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