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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0291
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Stellenkommentar JGB 35, KSA 5, S. 54 271

54,10 f. absagte?] In der von KSA 14, 352 mitgeteilten Vorstufe folgt darauf der
Satz: „Nehmen wir einmal an, daß wir, als zur Welt gehörig, wenn diese Welt
etwas Trügerisches ist - selber sogar etwas betrügen dürften? vielleicht ja be-
trügen müßten?“.

35.
Zum angeblich subtilen Zusammenhang von JGB 34 und JGB 35 siehe Strauss
1983, 177.
54,13-17 Oh Voltaire! Oh Humanität! Oh Blödsinn! Mit der „Wahrheit“, mit dem
Suchen der Wahrheit hat es etwas auf sich; und wenn der Mensch es dabei gar
zu menschlich treibt — „il ne cherche le vrai que pour faire le bien“ — ich wette,
er findet nichts!] KSA 14, 353 teilt dazu aus W 11 folgende Vorstufe mit: ,„il ne
cherche le vrai que pour faire le bien‘ Voltaire - und fand es folglich nicht -“.
Aus JGB 35 und der plakativen Anrufung Voltaires sowie der „Humanität“, die
im nächsten Atemzug als „Blödsinn“ apostrophiert wird, ist weniger eine prin-
zipielle Aufklärungsfeindlichkeit abzuleiten, als vielmehr die Kritik an einer
bestimmten, nämlich halbherzigen Art von Aufklärung. Deren Kennzeichen ist
es, dass sie das Wahrheitsinteresse dem moralischen Interesse, dem angebli-
chen Guten unterordnet. „Humanität“, Menschlichkeit gilt dieser Form von
Aufklärung als oberster Wert und opfert dafür gerne unliebsame Wahrheiten,
die dieser „Menschlichkeit“ widersprechen. JGB 35 spielt mit Wendungen des
Menschlich-Allzumenschlichen - MA I war Voltaire gewidmet -: Wenn „der
Mensch es [...] gar zu menschlich treibt“, will er letztlich jene Wahrheiten we-
der suchen noch finden, die den obersten Wert der „Menschlichkeit“ gefährden
könnten - beispielsweise Wahrheiten, die an der Gleichheit aller Menschen zu
zweifeln erlauben.
In Parenthese und im Zentrum von JGB 35 steht ein französischer Satz, der
auch schon den Kern der Vorstufe bildet und übersetzt heißt: „er sucht das
Wahre nur, um das Gute zu tun“. Das ist kein genaues Voltaire-Zitat (vgl. auch
Heller 1972b, 298 u. Metayer 2011, 167), sondern eine Abwandlung der zweiten
Zeile aus der Epitre CIX: A un homme von 1776, die Voltaire anlässlich des
Sturzes von Anne Robert Jacques Turgot (1727-1781) dichtete: Dieser verkörper-
te als reformwilliger Minister die politischen Hoffnungen der sonst regimekriti-
schen Aufklärer, konnte sich aber mit seinen Ideen nicht durchsetzen und ver-
lor sein Amt. Die Epitre CIX richtet sich direkt an Turgot und beginnt mit den
Versen: „Philosophe indulgent, ministre citoyen, / Qui ne cherchas le vrai que
pour faire le bien“ (Voltaire 1838, 1, Epitres, 72. „Großmütiger Philosoph, Bür-
ger Minister, / Der Du das Wahre suchtest nur, um das Gute zu tun“), um
 
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