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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0300
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280 Jenseits von Gut und Böse

liegt, was sich dann im organischen Prozesse abzweigt und ausgestaltet (auch,
wie billig, verzärtelt und abschwächt — ), als eine Art von Triebleben, in dem
noch sämmtliche organische Funktionen, mit Selbst-Regulirung, Assimilation, Er-
nährung, Ausscheidung, Stoffwechsel, synthetisch gebunden in einander sind, —
als eine Vor form des Lebens? —] Während in der Vorarbeit NL 1885, KSA 11,
40[37], 646, 23-647, 5 (KGW IX 4, W I 7, 57, 2-18) trotz sehr ähnlicher Formulie-
rungen noch nicht suggeriert wird, dass es sich bei der „Welt“ in ihrer „primiti-
vere [n] Form“ um das Reich des Anorganischen handelt, ist diese Gedanken-
führung in JGB 36 recht deutlich - bis hin zur Assoziation der „ sogenannte [n]
mechanistische[n] (oder,materielle[n]‘) Welt“ (54, 25f.) mit der „Vorform des
Lebens“ (55, 5). Über George Berkeleys Variante des idealistischen Immateria-
lismus und seine Distanzierung von der sinnlich wahrnehmbaren Welt als
substanzlose Vorstellungen hat sich N. in Otto Liebmanns Analysis der Wirk-
lichkeit kundig gemacht und dort auch Liebmanns Einwände nicht bloß mar-
kiert, sondern zustimmend glossiert (Liebmann 1880, 19-32).
Die ebenfalls schon in der Aufzeichnung 40 [37] verwendete Auflistung
„Selbst-Regulirung, Assimilation, Ernährung, Ausscheidung, Stoffwechsel“
verweist auf N.s einschlägige naturwissenschaftliche Lektüren, insbesondere
auf Wilhelm Roux’ Der Kampf der Theile im Organismus, für den der damals
ansonsten in der Ökonomie und Psychologie gebräuchliche Begriff der „Selbst-
regulation“ von zentraler Bedeutung war. Auch Roux sprach über die Ähnlich-
keiten anorganischer und organischer Prozesse und erörterte das am Beispiel
der Flamme: „Die Dauerprocesse müssen Hunger haben. Dieses
Wort ist hier natürlich nicht als eine bewusste Empfindung, sondern in der
Bedeutung einer stärkeren chemischen Affinität zur Nahrung bei stärkerem
Nahrungsbedürfniss aufzufassen. Also auch die Nahrungsaufnahme
und die Assimilation müssen der Selbstregulation unterlie-
gen, wie wir das auch noch in der einfachsten Weise bei der Flamme verwirk-
licht sehen. Das Gleiche muss von der Ausscheidung des Ver-
brauchten gelten. [...] Also auch die Ausscheidung muss der Selbstregula-
tion durch das Bedürfniss unterworfen sein, wofür wir wiederum das
einfachste Bei-/223/spiel in der Flamme haben. Je rascher sich die Flamme ver-
zehrt, um so mehr bildet sie Hitze, um so mehr assimilirt sie, um so rascher
findet aber auch durch die Verminderung des specifischen Gewichts die Abfuhr
der Endprodukte des Stoffwechsels statt.“ (Roux 1881, 222 f.) Diese Beobachtun-
gen Roux’ konnte N. in JGB 36 nahtlos in eine hypothetische Ontologie über-
führen, die nicht nur keine prinzipielle Differenz zwischen Organischem und
Anorganischem, Lebendem und Nicht-Lebendem aufrechterhält, sondern alles
in Analogie zur Selbsterfahrung als „Triebleben“ (55, 2) deutet - „Kraft“ hieß
es in NL 1885, KSA 11, 40[37], 646, 23 noch -, und den (vermeintlichen) Partial-
 
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