Stellenkommentar JGB 36, KSA 5, S. 55 2 85
das dadurch bedingte Zerfallen in einzelne Handlungen, als empirischer Cha-
rakter erkannt wird, ist, mit Abstraktion von dieser zeitlichen Form der Erschei-
nung, der intelligible Charakter, nach dem Ausdrucke Kants, der in der Nach-
weisung dieser Unterscheidung und Darstellung des Verhältnisses zwischen
Freiheit und Nothwendigkeit, d. h. eigentlich zwischen dem Willen als Ding an
sich und seiner Erscheinung in der Zeit, sein unsterbliches Verdienst besonders
herrlich zeigt. Der intelligible Charakter fällt also mit der Idee, oder noch ei-
gentlicher mit dem ursprünglichen Willensakt, der sich in ihr offen-/186/bart,
zusammen: insofern ist also nicht nur der empirische Charakter jedes Men-
schen, sondern auch der jeder Thierspecies, ja jeder Pflanzenspecies und sogar
jeder ursprünglichen Kraft der unorganischen Natur, als Erscheinung eines in-
telligibeln Charakters, d. h. eines außerzeitlichen untheilbaren Willensaktes
anzusehen.“ (Schopenhauer 1873-1874, 2,185 f.) Während Kant die Begriffsver-
wendung noch ethisch und anthropologisch einschränkte, entgrenzte Scho-
penhauer sie auf der Grundlage seiner Willensontologie. Riccardi 2009, 138 f.
u. Loukidelis 2014, 238 machen darauf aufmerksam, dass auch Paul Heinrich
Widemann in seinem von N. zumindest angelesenen Buch Erkennen und Sein
den „intelligiblen Charakter“ in einem erweiterten Sinne benutzt hat, und dass
eine Anspielung darauf am Ende von JGB 36 sogar wahrscheinlich sei: „Das
uns so unvollständig bekannte Qualitative der Dinge schließt auch das Höchste
und Wichtigste in sich, worauf die Philosophie zuletzt abzielen kann: die
Grundeinheit, in welcher alle besonderen Qualitäten eines Dinges begründet
liegen und woraus alle seine activen und passiven Daseinsäußerungen flie-
ßen, - dasselbe, was wir beim Subjecte als den absoluten oder (nach Kant)
intelligiblen Charakter bezeichneten und was empirisch als die tiefste
Wurzel alles anorganischen und organischen Lebens zu bezeichnen ist. In die-
sem absoluten Charakter der Dinge und der Welt liegt ihr ganzes Geheimniß,
welches alle anderen Räthsel der Natur in sich begreift.“ (Widemann 1885, 233)
Allerdings hält Widemann die Erinnerung daran aufrecht, dass „intelligibler
Charakter“ etwas ist, was menschlichen Subjekten und nicht der „Welt“ oder
den „Dingen“ im allgemeinen prädiziert wird, so dass man im Ausgang von
ihm eigentlich nicht, wie N., vom „intelligiblen Charakter“ der Welt sprechen
könnte. Trotz des Fischer-Exzerpts scheint N. auch an den beiden anderen
Spätwerk-Stellen, die den „intelligiblen Charakter“ anrufen, über keine sehr
deutlichen Kantischen Begriffe verfügt zu haben: Neben GD Streifzüge eines
Unzeitgemässen 1, KSA 6, 111, 7 ist dies eine Klammerbemerkung in GM III12,
KSA 5, 364,17-23, wo er sogar mit zitierenden Anführungszeichen vom „Kanti-
schen Begriff,intelligibler Charakter der Dinge“4 (KSA 5, 364,17 f.) spricht. Die-
se Wendung gibt es bei Kant einfach nicht (auch nicht bei Schopenhauer oder
Widemann); hingegen konnte N. sie beispielsweise in Ludwig Noires Grundle-
das dadurch bedingte Zerfallen in einzelne Handlungen, als empirischer Cha-
rakter erkannt wird, ist, mit Abstraktion von dieser zeitlichen Form der Erschei-
nung, der intelligible Charakter, nach dem Ausdrucke Kants, der in der Nach-
weisung dieser Unterscheidung und Darstellung des Verhältnisses zwischen
Freiheit und Nothwendigkeit, d. h. eigentlich zwischen dem Willen als Ding an
sich und seiner Erscheinung in der Zeit, sein unsterbliches Verdienst besonders
herrlich zeigt. Der intelligible Charakter fällt also mit der Idee, oder noch ei-
gentlicher mit dem ursprünglichen Willensakt, der sich in ihr offen-/186/bart,
zusammen: insofern ist also nicht nur der empirische Charakter jedes Men-
schen, sondern auch der jeder Thierspecies, ja jeder Pflanzenspecies und sogar
jeder ursprünglichen Kraft der unorganischen Natur, als Erscheinung eines in-
telligibeln Charakters, d. h. eines außerzeitlichen untheilbaren Willensaktes
anzusehen.“ (Schopenhauer 1873-1874, 2,185 f.) Während Kant die Begriffsver-
wendung noch ethisch und anthropologisch einschränkte, entgrenzte Scho-
penhauer sie auf der Grundlage seiner Willensontologie. Riccardi 2009, 138 f.
u. Loukidelis 2014, 238 machen darauf aufmerksam, dass auch Paul Heinrich
Widemann in seinem von N. zumindest angelesenen Buch Erkennen und Sein
den „intelligiblen Charakter“ in einem erweiterten Sinne benutzt hat, und dass
eine Anspielung darauf am Ende von JGB 36 sogar wahrscheinlich sei: „Das
uns so unvollständig bekannte Qualitative der Dinge schließt auch das Höchste
und Wichtigste in sich, worauf die Philosophie zuletzt abzielen kann: die
Grundeinheit, in welcher alle besonderen Qualitäten eines Dinges begründet
liegen und woraus alle seine activen und passiven Daseinsäußerungen flie-
ßen, - dasselbe, was wir beim Subjecte als den absoluten oder (nach Kant)
intelligiblen Charakter bezeichneten und was empirisch als die tiefste
Wurzel alles anorganischen und organischen Lebens zu bezeichnen ist. In die-
sem absoluten Charakter der Dinge und der Welt liegt ihr ganzes Geheimniß,
welches alle anderen Räthsel der Natur in sich begreift.“ (Widemann 1885, 233)
Allerdings hält Widemann die Erinnerung daran aufrecht, dass „intelligibler
Charakter“ etwas ist, was menschlichen Subjekten und nicht der „Welt“ oder
den „Dingen“ im allgemeinen prädiziert wird, so dass man im Ausgang von
ihm eigentlich nicht, wie N., vom „intelligiblen Charakter“ der Welt sprechen
könnte. Trotz des Fischer-Exzerpts scheint N. auch an den beiden anderen
Spätwerk-Stellen, die den „intelligiblen Charakter“ anrufen, über keine sehr
deutlichen Kantischen Begriffe verfügt zu haben: Neben GD Streifzüge eines
Unzeitgemässen 1, KSA 6, 111, 7 ist dies eine Klammerbemerkung in GM III12,
KSA 5, 364,17-23, wo er sogar mit zitierenden Anführungszeichen vom „Kanti-
schen Begriff,intelligibler Charakter der Dinge“4 (KSA 5, 364,17 f.) spricht. Die-
se Wendung gibt es bei Kant einfach nicht (auch nicht bei Schopenhauer oder
Widemann); hingegen konnte N. sie beispielsweise in Ludwig Noires Grundle-