288 Jenseits von Gut und Böse
theilt, überflüssigen Posse, in welche aber die edlen und schwärmerischen Zu-
schauer von ganz Europa aus der Ferne her so lange und so leidenschaftlich ihre
eignen Empörungen und Begeisterungen hinein interpretirt haben, bis der
Text unter der Interpretation verschwand: so könnte eine edle Nach-
welt noch einmal die ganze Vergangenheit missverstehn und dadurch vielleicht
erst ihren Anblick erträglich machen. — Oder vielmehr: ist dies nicht bereits ge-
schehen? waren wir nicht selbst — diese „edle Nachwelt“? Und ist es nicht gerade
jetzt, insofern wir dies begreifen, — damit vorbei?] KSA 14, 353 teilt dazu aus
dem Manuskriptheft MIII4 folgende Vorarbeit mit: „Die französische Revoluti-
on, eine schauerliche und noch dazu überflüssige Posse, aus der Nähe gesehn:
aber die Zuschauer von ferne haben alle ihre anständigen Empfindungen und
Empörungen hineingedeutet. - So könnte eine edle Nachwelt noch die
ganze Vergangenheit einmal mißverstehen und dadurch ihren Anblick
erträglich machen.“ AC 11, KSA 6, 178, 3-9 kommt auf Kants Verständnis der
Französischen Revolution zu sprechen und bedient sich in denunziatorischer
Absicht einschlägiger Passagen aus dem zweiten Abschnitt von Kants Streit der
Fakultäten. Freilich wird dabei nicht Kants Schrift im Original benutzt, sondern
die Paraphrase und Deutung aus Kuno Fischers Geschichte der neuern Philoso-
phie (vgl. NK 6/2, S. 76 f.). Von Fischer hat sich N. in NL 1886/87, KSA 12, 7[4],
266, 33-268, 8 Stellungnahmen Kants zur Französischen Revolution und des-
sen Überzeugung exzerpiert, aufgrund der Reaktion des Publikums einen all-
mählichen Fortschritt im moralischen Bewusstsein der Menschheit postulieren
zu dürfen. In NL 1887, KSA 12, 10[118], 525, If. (entspricht KGW IX 6, W II 2,
58, 20-22) findet sich der Plan, diese „absolut widerhistorisch[e]“ „Stelle über
die französische Revolution“ bei Kant aufzugreifen, was neben AC 11 auch in
GD Streifzüge eines Unzeitgemässen 48, KSA 6, 150, 28-151, 2 anspielungswei-
se geschieht. Das in diesem Zusammenhang Wesentliche an Kants Behandlung
der Revolution im Streit der Fakultäten ist es, dass er wie auch JGB 38 nicht so
sehr auf das Ereignis selbst abhebt, sondern darauf, was die „Zuschauer“ da-
raus gemacht hätten - wie es auf die „Zuschauer“ wirkte: „Die Revolution ei-
nes geistreichen Volks, die wir in unseren Tagen haben vor sich gehen sehen,
mag gelingen oder scheitern; sie mag mit Elend und Greuelthaten dermaßen
angefüllt sein, daß ein wohldenkender Mensch sie, wenn er sie zum zweiten-
male unternehmend glücklich auszuführen hoffen könnte, doch das Experi-
ment auf solche Kosten zu machen nie beschließen würde, — diese Revolution,
sage ich, findet doch in den Gemüthern aller Zuschauer (die nicht selbst in
diesem Spiele mit verwickelt sind) eine Theilnehmung dem Wunsche nach, die
nahe an Enthusiasm grenzt, und deren Äußerung selbst mit Gefahr verbunden
war, die also keine andere als eine moralische Anlage im Menschengeschlecht
zur Ursache haben kann.“ (AA VII, 85, zitiert bei Fischer 1869, 4, 529). Nach
theilt, überflüssigen Posse, in welche aber die edlen und schwärmerischen Zu-
schauer von ganz Europa aus der Ferne her so lange und so leidenschaftlich ihre
eignen Empörungen und Begeisterungen hinein interpretirt haben, bis der
Text unter der Interpretation verschwand: so könnte eine edle Nach-
welt noch einmal die ganze Vergangenheit missverstehn und dadurch vielleicht
erst ihren Anblick erträglich machen. — Oder vielmehr: ist dies nicht bereits ge-
schehen? waren wir nicht selbst — diese „edle Nachwelt“? Und ist es nicht gerade
jetzt, insofern wir dies begreifen, — damit vorbei?] KSA 14, 353 teilt dazu aus
dem Manuskriptheft MIII4 folgende Vorarbeit mit: „Die französische Revoluti-
on, eine schauerliche und noch dazu überflüssige Posse, aus der Nähe gesehn:
aber die Zuschauer von ferne haben alle ihre anständigen Empfindungen und
Empörungen hineingedeutet. - So könnte eine edle Nachwelt noch die
ganze Vergangenheit einmal mißverstehen und dadurch ihren Anblick
erträglich machen.“ AC 11, KSA 6, 178, 3-9 kommt auf Kants Verständnis der
Französischen Revolution zu sprechen und bedient sich in denunziatorischer
Absicht einschlägiger Passagen aus dem zweiten Abschnitt von Kants Streit der
Fakultäten. Freilich wird dabei nicht Kants Schrift im Original benutzt, sondern
die Paraphrase und Deutung aus Kuno Fischers Geschichte der neuern Philoso-
phie (vgl. NK 6/2, S. 76 f.). Von Fischer hat sich N. in NL 1886/87, KSA 12, 7[4],
266, 33-268, 8 Stellungnahmen Kants zur Französischen Revolution und des-
sen Überzeugung exzerpiert, aufgrund der Reaktion des Publikums einen all-
mählichen Fortschritt im moralischen Bewusstsein der Menschheit postulieren
zu dürfen. In NL 1887, KSA 12, 10[118], 525, If. (entspricht KGW IX 6, W II 2,
58, 20-22) findet sich der Plan, diese „absolut widerhistorisch[e]“ „Stelle über
die französische Revolution“ bei Kant aufzugreifen, was neben AC 11 auch in
GD Streifzüge eines Unzeitgemässen 48, KSA 6, 150, 28-151, 2 anspielungswei-
se geschieht. Das in diesem Zusammenhang Wesentliche an Kants Behandlung
der Revolution im Streit der Fakultäten ist es, dass er wie auch JGB 38 nicht so
sehr auf das Ereignis selbst abhebt, sondern darauf, was die „Zuschauer“ da-
raus gemacht hätten - wie es auf die „Zuschauer“ wirkte: „Die Revolution ei-
nes geistreichen Volks, die wir in unseren Tagen haben vor sich gehen sehen,
mag gelingen oder scheitern; sie mag mit Elend und Greuelthaten dermaßen
angefüllt sein, daß ein wohldenkender Mensch sie, wenn er sie zum zweiten-
male unternehmend glücklich auszuführen hoffen könnte, doch das Experi-
ment auf solche Kosten zu machen nie beschließen würde, — diese Revolution,
sage ich, findet doch in den Gemüthern aller Zuschauer (die nicht selbst in
diesem Spiele mit verwickelt sind) eine Theilnehmung dem Wunsche nach, die
nahe an Enthusiasm grenzt, und deren Äußerung selbst mit Gefahr verbunden
war, die also keine andere als eine moralische Anlage im Menschengeschlecht
zur Ursache haben kann.“ (AA VII, 85, zitiert bei Fischer 1869, 4, 529). Nach