Stellenkommentar JGB 38, KSA 5, S. 56 289
Kant gibt „die Theilnehmung am Guten mit Affect, der Enthusiasm [...] doch
vermittelst dieser Geschichte zu der für die Anthropologie wichtigen Bemer-
kung Anlaß: daß wahrer Enthusiasm nur immer aufs Idealische und zwar rein
Moralische geht, dergleichen der Rechtsbegriff ist, und nicht auf den Eigennutz
gepfropft werden kann.“ (AA VII, 86, bei Fischer 1869, 4, 529 ohne Kenntlich-
machung mit syntaktischer Umstellung als direkte Fortsetzung des obigen Zita-
tes wiedergegeben.)
Kants Perspektivenwechsel vom kontingenten geschichtlichen Ereignis
zum Umgang der „Zuschauer“ mit diesem Ereignis konnte für die Kritik in JGB
38 die Vorlage liefern: Dass in anderen Werken N.s die Französische Revolution
mit ihren Idealen von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit aus einer elitisti-
schen politischen Grundoption heraus abgelehnt wird, dürfte N.s Lesern be-
reits sattsam bekannt sein (vgl. z. B. NK KSA 6, 27, 25). In JGB 38 wird trotz
der hämischen Nebenbemerkung über die ,,schauerliche[.] [...] überflüssige[.]
Posse“ nicht die Revolution selbst ins Visier genommen, sondern die Art und
Weise, wie man darüber spricht. Dabei liefert der Abschnitt die Inversion von
Kants Erwartung, dass nämlich die Publikumsreaktion ein Zeichen für den ge-
schichtlichen Fortschritt darstelle. Vielmehr erscheinen die „edlen und
schwärmerischen Zuschauer“ als Fälscher, nämlich als diejenigen, die den
„Text“, die Wirklichkeit“, ihrer schönfärberischen „Interpretation“ op-
fern. Den Gegensatz von „Text“/„Thatsachen“ und „Interpretation“ macht spä-
ter auch AC 52 geltend, vgl. z. B. NK KSA 6, 233, 17-24. Und wie in Kants Streit
der Fakultäten (bzw. in dessen Aufbereitung durch Kuno Fischer) dient die
Französische Revolution in JGB 38 letztlich nur als exemplarischer Beleg für
eine allgemeine Tendenz - jedoch nicht für die Tendenz eines Gattungsfort-
schritts, sondern für die Tendenz zur Zurechtmachung und Verfälschung von
„Tatsachen“. Die von Kant privilegierte, fortschrittsorientierte Geschichtsbe-
trachtung in weltbürgerlicher Absicht verzeichnet die Realität. Bis hin zur
Wahl des Wortes „Posse“ scheint dabei jene Geschichtsbetrachtung den Vorzug
zu erhalten, die Kant im Streit der Fakultäten als „abderitisch“ charakterisiert
hatte und zu der sich N. notiert hat: „Wenn sich die Menschheit zunehmend
verschlechtert, so ist ihr Ziel das absolut Schlechte: die terroristi-
sche Vorstellungsart im Gegensatz zu der eudämonistischen Vorstel-
lungsart oder dem ,Chiliasmus‘. Schwankt die Geschichte zwischen Fort- und
Rückschritt hin und her, ist ihr ganzes Treiben zweck- und ziellos, nichts als
eine geschäftige Thorheit, so daß sich Gutes und Böses gegenseitig
neutralisiren und das Ganze als ein Possenspiel erscheint:
das nennt Kant die abderitische Vorstellungsart.“ (NL 1886/87, KSA
12, 7[4], 267, 27-268, 6 nach Fischer 1869, 4, 526 f.) Zumindest hätte der Abderi-
tismus den Vorzug, den „Text“ der Geschichte nicht durch eine für das Men-
schengeschlecht schmeichelhafte „Interpretation“ aufhübschen zu wollen.
Kant gibt „die Theilnehmung am Guten mit Affect, der Enthusiasm [...] doch
vermittelst dieser Geschichte zu der für die Anthropologie wichtigen Bemer-
kung Anlaß: daß wahrer Enthusiasm nur immer aufs Idealische und zwar rein
Moralische geht, dergleichen der Rechtsbegriff ist, und nicht auf den Eigennutz
gepfropft werden kann.“ (AA VII, 86, bei Fischer 1869, 4, 529 ohne Kenntlich-
machung mit syntaktischer Umstellung als direkte Fortsetzung des obigen Zita-
tes wiedergegeben.)
Kants Perspektivenwechsel vom kontingenten geschichtlichen Ereignis
zum Umgang der „Zuschauer“ mit diesem Ereignis konnte für die Kritik in JGB
38 die Vorlage liefern: Dass in anderen Werken N.s die Französische Revolution
mit ihren Idealen von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit aus einer elitisti-
schen politischen Grundoption heraus abgelehnt wird, dürfte N.s Lesern be-
reits sattsam bekannt sein (vgl. z. B. NK KSA 6, 27, 25). In JGB 38 wird trotz
der hämischen Nebenbemerkung über die ,,schauerliche[.] [...] überflüssige[.]
Posse“ nicht die Revolution selbst ins Visier genommen, sondern die Art und
Weise, wie man darüber spricht. Dabei liefert der Abschnitt die Inversion von
Kants Erwartung, dass nämlich die Publikumsreaktion ein Zeichen für den ge-
schichtlichen Fortschritt darstelle. Vielmehr erscheinen die „edlen und
schwärmerischen Zuschauer“ als Fälscher, nämlich als diejenigen, die den
„Text“, die Wirklichkeit“, ihrer schönfärberischen „Interpretation“ op-
fern. Den Gegensatz von „Text“/„Thatsachen“ und „Interpretation“ macht spä-
ter auch AC 52 geltend, vgl. z. B. NK KSA 6, 233, 17-24. Und wie in Kants Streit
der Fakultäten (bzw. in dessen Aufbereitung durch Kuno Fischer) dient die
Französische Revolution in JGB 38 letztlich nur als exemplarischer Beleg für
eine allgemeine Tendenz - jedoch nicht für die Tendenz eines Gattungsfort-
schritts, sondern für die Tendenz zur Zurechtmachung und Verfälschung von
„Tatsachen“. Die von Kant privilegierte, fortschrittsorientierte Geschichtsbe-
trachtung in weltbürgerlicher Absicht verzeichnet die Realität. Bis hin zur
Wahl des Wortes „Posse“ scheint dabei jene Geschichtsbetrachtung den Vorzug
zu erhalten, die Kant im Streit der Fakultäten als „abderitisch“ charakterisiert
hatte und zu der sich N. notiert hat: „Wenn sich die Menschheit zunehmend
verschlechtert, so ist ihr Ziel das absolut Schlechte: die terroristi-
sche Vorstellungsart im Gegensatz zu der eudämonistischen Vorstel-
lungsart oder dem ,Chiliasmus‘. Schwankt die Geschichte zwischen Fort- und
Rückschritt hin und her, ist ihr ganzes Treiben zweck- und ziellos, nichts als
eine geschäftige Thorheit, so daß sich Gutes und Böses gegenseitig
neutralisiren und das Ganze als ein Possenspiel erscheint:
das nennt Kant die abderitische Vorstellungsart.“ (NL 1886/87, KSA
12, 7[4], 267, 27-268, 6 nach Fischer 1869, 4, 526 f.) Zumindest hätte der Abderi-
tismus den Vorzug, den „Text“ der Geschichte nicht durch eine für das Men-
schengeschlecht schmeichelhafte „Interpretation“ aufhübschen zu wollen.