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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0310
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290 Jenseits von Gut und Böse

56,14 f. die ganze Vergangenheit missverstehn [sic!]] Im Drucksatz der Erstaus-
gabe stand ursprünglich: „die ganze Vergangenheit nicht verstehn“ (Nietzsche
1886, 52). Die Korrektur erfolgte dort durch die „Berichtigungen“ auf der unpa-
ginierten letzten Seite (Nietzsche 1886, 272). KSA 5, 56, 15 emendiert still-
schweigend und gegen die „Berichtigung“ „missverstehn“ fälschlich zu „miss-
verstehen“.

39.
JGB 39 verallgemeinert die in JGB 38 am Beispiel eines geschichtlichen Ereig-
nisses dargetane Einsicht, dass die Fälschung von Tatsachen tröstlicher Inter-
pretationen zuliebe nicht statthaft sei, wenigstens nicht für den „freigeisteri-
schen Philosophen“ (57, 17 f.), dem an Redlichkeit um jeden Preis zu liegen
scheint. Die Polemik gegen das Fürwahrhalten einer „Lehre“, bloß weil sie dem
Anschein nach „glücklich“ oder „tugendhaft macht“ (56, 20 f.) - also gegen
jede Form des Eudämonismus, Utilitarismus und Pragmatismus -, wird ver-
stärkt durch die Behauptung, dass nicht einmal das „Unglücklich-machen und
Böse-machen“ gültige „Gegenargumente“ (56, 27 f.) seien - „Gegenargumen-
te“, so wird man ergänzen müssen, gegen eine harte, schonungslose Sicht der
Wirklichkeit, die um jeden Preis die (immerhin in Anführungszeichen gesetzte)
„Wahrheit“4 (57, 2) will. Indes könnten kritische Leser auch einwenden, dass,
wenn „Glück“ oder „Tugend“ (56, 25) für Fragen der Erkenntnis oder der
„Wahrheit“ irrelevant sind („Glück und Tugend sind keine Argumente“ - 56,
25), dies ebenso für Unglück und Bosheit gelten müsste. Der Abschnitt lässt im
Dunkeln, weshalb, wie es nach JGB 39 ja schon die herkömmliche Auffassung
gewesen ist, überhaupt eine Beziehung zwischen Glück/Tugend oder Unglück/
Bosheit einerseits und Erkenntnis andererseits bestehen soll. Der Aphorismus
kehrt nur die Vorzeichen um, verbleibt damit aber im überlieferten Denksche-
ma. Warum soll es „keinem Zweifel unterlieg[en] [...], dass für die Entdeckung
gewisser Th ei le der Wahrheit die Bösen und Unglücklichen begünstigter
sind und eine grössere Wahrscheinlichkeit des Gelingens haben“ (57, 5-8)?
Jedenfalls soll die „Stärke eines Geistes“ (57, 1) gerade daran bemessen
werden, wie viel unverdünnte „Wahrheit4“ er zu ertragen im Stande ist. Der
später im Sechsten Hauptstück: wir Gelehrten exponierte Gegensatz von (ech-
ten) „Philosophen“ und „Gelehrten“ wird in JGB 39 bereits vorexerziert: Der
„Gelehrte“ wolle die Dinge letztlich leicht nehmen, während der „Philosoph“
sie schwer nehme, illusionslos, trocken, klar, wie der Abschnitt es mit einem
abschließenden Stendhal-Zitat illustriert. Diese antikonsequentialistische und
immoralistische Auffassung des philosophischen Geschäfts hält sich bis in N.s
letzte Werke: Namentlich in AC wird daraus nicht nur die Idee einzigartiger
 
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