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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0313
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Stellenkommentar JGB 40, KSA 5, S. 57 293

schnitt JGB 39 in Szene gesetzt, der die Wahrheitssuche um jeden Preis, das
heroische Wahrheitserdulden dem „freigeisterischen Philosophen“ (57, 17 f.)
auf den Leib zu schneidern scheint. Zwischen dem Ertragen der Wahrheit und
dem Maskentragen gibt es aber offensichtlich keinen unauflöslichen Gegen-
satz; beides sind Modi, extreme Modi freigeisterischer Existenz. In der Öffent-
lichkeit maskiert zu bleiben, weil ein unverstelltes Kundtun der eigenen Mei-
nung mit Gefahren für Leib und Leben verbunden sei, war für N. eine aus
einschlägigen Lektüren wohlvertraute, intellektuelle Praxis namentlich im 16.
und 17. Jahrhundert, und wurde etwa bei Baltasar Graciän y Morales zu einer
eigentlichen Lebenslehre ausgebaut. Selbst ein scheinbar der unbedingten
Redlichkeit verpflichteter Denker wie Rene Descartes gab sich im ersten Satz
seiner Cogitationes privatae von der Nützlichkeit der Devise „larvatus prodeo“
(Descartes 1908, 10, 213) überzeugt. Gegen die Kunst des Verhehlens opponier-
te die Aufklärung, die um der Wahrheit willen sämtliche Leiden, einschließlich
des Martyriums, auf sich zu nehmen versprach (vgl. JGB 25), und aus dieser
Wahrhaftigkeit um jeden Preis einen Gutteil ihres Pathos und ihres Geltungs-
anspruches bezog. Wenn JGB 40 wiederum für die Masken eintritt, dann mar-
kiert dies einerseits einen gegen die aufklärerische Naivität gerichteten Rück-
bezug auf die (vorgeblich) vornehme Kultur des französischen siede classique
sowie der camouflagefreudigen Renaissance und auf den Gebrauch der Maske
im antiken Theater (vgl. Cancik/Cancik-Lindemaier 2003), andererseits aber
auch deren entschiedene Überwindung. Denn hinter den Masken verbirgt sich
kein wahres, authentisches ego. Demgegenüber klingen die Vorüberlegungen,
etwa in NL 1882, KSA 10, l[20], 13f. unter der Überschrift „Zur Moral des
, Ich‘.“ (KSA 10, 13, 18) stellenweise noch recht konventionell: Da gibt es of-
fenbar noch ein „Ich“, das sich zum Selbstschutz „Masken“ anlegt: „Und man
muß, um nicht fortwährend gekreuzt zu werden, seine Maske haben. Auch
um zu verführen... “ (KSA 10, 13, 21-23) Nun wird zwar im Folgenden dieser
Aufzeichnung das Ich zu einem gefräßig-expansiven Wesen aufgewertet, für
das wohl auch das Verführen einfach ein Mittel zur Selbstkonstitution qua
Überwältigung und Einverleibung darstellt. Aber auch ,,[d]ie gewöhnliche
Wahrhaftigkeit ist eine Maske ohne Bewußtsein der Maske“ (KSA 10,
13, 25-14, 2).
Dem Leser drängt sich hier freilich die Frage nach der Funktionalität der
Maske in N.s Gegenwart auf, lebte er doch keineswegs mehr unter äußeren
sozialen Bedingungen, die ihm die Maskierung aus Selbsterhaltungsinteresse
auferlegt hätten: N. konnte frei und unbehelligt publizieren, was und wie er
wollte - nicht einmal die Proklamation von Gottes Tod in FW 125 haben ihm
die Zeitgenossen übel genommen, da sie überhaupt auf N.-Lektüre zu verzich-
ten pflegten. Entsprechend wird man - unabhängig von N.s Eigendeutung -
 
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