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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0319
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Stellenkommentar JGB 41, KSA 5, S. 58 299

ausgeprägt hat: Fundamental ist, wie Epiktet im 1. Kapitel seines Encheiridions
ausführt, dass man die Dinge danach unterscheidet, ob sie in unserer Gewalt
stehen oder nicht. Nach dieser Differenzierung liegen die eigenen Meinungen,
Triebe und Gedanken in der Reichweite unserer Macht, alle äußeren Dinge hin-
gegen nicht, so dass es um der inneren philosophischen Souveränität willen
angezeigt ist, auf jeden Versuch zu verzichten, Macht über etwas zu erlangen,
was sich der Bemächtigung beharrlich entzieht. Im Epiktet-Kommentar des
Simplikios, den N. intensiv durchgearbeitet hat, lautet die Übersetzung der ent-
sprechenden Stelle aus dem Encheiridion: „Von dem, was ist, steht das Eine bei
uns, das Andere aber nicht. Bei uns stehen Meinungsannahme, Entschluss,
Begehren, Vermeiden; mit einem Worte, was unser Werk ist.“ Dazu Simplikios:
„Bei uns stehend nennt er jenes, dessen Herren wir sind, und worüber
wir die Macht haben.“ (Simplikios 1867, 7. Epiktet-Zitat von N. mit Randstrich
markiert, seine Unterstreichungen). Am Ende seiner Erläuterung resümierte
Simplikios: „das Annehmen aber und das Wählen sind unsere eigenen Werke,
und liegen in unserer Macht; darum ist auch unser Gutes und Böses in uns
selbst; denn Niemand kann über das zurecht gewiesen werden, worüber er
nicht Herr ist (ebd., 29. N.s Unterstreichungen, am Rand von ihm mit „NB“
markiert).
So ablehnend sich N.s Texte gegenüber der Stoa zu zeigen pflegen (vgl.
z. B. NK 118, 20-22), so selbstverständlich griff er mit dem Gedanken des sich
selbst souverän machenden Individuums doch ein stoisches Denk- oder Selbst-
formungsmuster auf (wie auch bei der Ablehnung des Mitleids, vgl. NK 59, 8 f.).
Dabei gibt JGB 41 jedoch die von Epiktet gezogene Grenze zwischen Dingen
innerhalb und Dingen außerhalb unserer Kontrolle auf und unterwirft dem
philosophischen Machtwillen die Fülle all dessen, was ist. Daher tritt an die
Seite der Bestimmung zur „Unabhängigkeit“ ungesondert diejenige „zum Be-
fehlen“ (58, 31). Dennoch bleibt trotz aller in JGB zelebrierten Ermächtigungs-
rhetorik der Königsweg zur Souveränität wie bei Epiktet der des Verzichts -
und genau diesen Verzicht in seinen diversen Stadien schildert JGB 41. Aber
auch beim Verzicht kommt es zu der für N.s Texte so typischen Geste der Über-
bietung: Auch auf das soll verzichtet werden, was die Stoiker niemals hätten
preisgeben wollen, weil es das Zentrum ihrer Bemühungen war, nämlich ihre
„eignen Tugenden“ (59, 16). Das stoische Trachten nach Souveränität und
Selbstfestigung durch Verzicht wird zwar adaptiert, aber mit einer scharfen
Wendung gegen das verbunden, was nach anderen Texten N.s die Stoa so gut
wie den Platonismus verdorben hat, nämlich die Moralisierung (vgl. z. B. NK
KSA 6, 155, 29 f.). Unangefochten bleibt jedoch die starke, gerade für die stoi-
sche Bewährungspraxis charakteristische Selbstreflexivität des Verzichtenkön-
nens: Die „Proben“ (58, 30 u. ö.), die der Philosophierende von seiner Fähigkeit
 
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