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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0321
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Stellenkommentar JGB 41, KSA 5, S. 59 301

sehen zu vermeiden, war namentlich bei Stoikern ein Rezept, schwerwiegende
Enttäuschungen zu vermeiden. Die Gefängnismetapher hat N. in AC 54 auf
„Überzeugungen“ übertragen, vgl. NK KSA 6, 236, 6 f.
59, 5-8 Nicht an einem Vaterlande hängen bleiben: und sei es das leidendste
und hülfbedürftigste, — es ist schon weniger schwer, sein Herz von einem siegrei-
chen Vaterlande los zu binden.] Vgl. NL 1880, KSA 9, 3[146], 95, 5f.: „Die Vater-
landsliebe nimmt ab, wenn das Vaterland aufhört, unglücklich zu sein.“ Ohne-
hin gibt sich der Nachlass skeptisch, was die Nachhaltigkeit und Bindungskraft
der Vaterlandsliebe angeht, vgl. z. B. NL 1886, KSA 12, 3[6], 172, 6-9: „Die Va-
terlandsliebe ist in Europa etwas Junges und steht noch auf schwachen Beinen:
sie fällt leicht um! Man darf sich durch den Lärm den sie macht nicht täuschen
lassen: kleine Kinder schrein am lautesten.“ N. selbst ist es nach dem siegrei-
chen Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 nicht schwergefallen, sein eigenes
„Herz von einem siegreichen Vaterlande los zu binden“, um stattdessen seinen
gegenwärtigen Charakter lauthals zu schmähen, so etwa in der Ersten unzeitge-
mässen Betrachtung gegen David Friedrich Strauß und den angeblich typi-
schen deutschen Bildungsphilister.
59, 8 f. Nicht an einem Mitleiden hängen bleiben] Die Kritik am Mitleid ist in
N.s Spätwerk fast allgegenwärtig (vgl. z. B. NK 48, 22-27). Gerade die Stoiker
haben es scharf abgelehnt. Der Gründervater der Stoa, Zenon von Kition, rech-
net Mitleiden zu den Schmerzen, die ein unvernünftiges Verzagen anzeigen
(Diogenes Laertius: De vitis VII 111). Es gilt ihm als Seelenschwäche (ebd., VII
123).
59,16-21 Nicht an unsern eignen Tugenden hängen bleiben und als Ganzes das
Opfer irgend einer Einzelheit an uns werden, zum Beispiel unsrer „Gastfreund-
schaft“: wie es die Gefahr der Gefahren bei hochgearteten und reichen Seelen
ist, welche verschwenderisch, fast gleichgültig mit sich selbst umgehn und die
Tugend der Liberalität bis zum Laster treiben.] Als einziges Beispiel der für die
Selbstbewahrung gefährlichen Tugenden wird die „Gastfreundschaft“ ge-
nannt, die in den Begriff der „Liberalität“ im Sinne von Freigiebigkeit übersetzt
wird und im Übrigen nach den biographischen Zeugnissen auch im Geistigen
weniger N.s eigenen Umgang mit seiner Nahwelt kennzeichnet, als vielmehr
umgekehrt den Umgang dieser Nahwelt, N.s Freunden, mit ihm: N. scheint
meist gewusst zu haben, wie er sich „bewahren“ kann. Pragmatischer fällt die
Einschätzung der Gastfreundschaft in M 319 aus: „Der Sinn in den Gebräuchen
der Gastfreundschaft ist: das Feindliche im Fremden zu lähmen. Wo man im
Fremden nicht mehr zunächst den Feind empfindet, nimmt die Gastfreund-
schaft ab.“ (KSA 3, 288, 16-20. Diese Überlegung beruht unmittelbar auf Bau-
mann 1879, 438. Vgl. auch Ree 1885, 242-244 u. Hubert Treibers Erläuterungen
 
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