Stellenkommentar JGB 44, KSA 5, S. 60 307
Wahrheiten zeugten einfach nur von schlechtem Geschmack. Dann kann JGB
43 ausblenden, dass der Wille herkömmlicher Philosophen nach einer verallge-
meinerten Wahrheit von einem ungleich stärkeren Machtwillen zeugt als die
vermutete Bescheidung der Zukunftsphilosphen mit ihrer je eigenen Wahrheit,
die sie nicht gemein machen wollen. Womöglich sind die Zukunftsphilosophen
ja wider Erwarten dekadent geschwächt?
60,12-19 „Gut“ ist nicht mehr gut, wenn der Nachbar es in den Mund nimmt.
Und wie könnte es gar ein „Gemeingut“geben! Das Wort widerspricht sich selbst:
was gemein sein kann, hat immer nur wenig Werth. Zuletzt muss es so stehn, wie
es steht und immer stand: die grossen Dinge bleiben für die Grossen übrig, die
Abgründe für die Tiefen, die Zartheiten und Schauder für die Feinen, und, im
Ganzen und Kurzen, alles Seltene für die Seltenen. —] Der Übergang in die mora-
lische oder moralgenealogische Sphäre vollzieht sich anscheinend leicht; aus
der Kritik an der Gemeinmachung der Wahrheit durch Verallgemeinerung er-
gibt sich die Kritik an der Gemeinmachung des Guten durch Verallgemeinerung
unmittelbar. Auch das Gute soll exklusiv sein - die Vornehmheit wird mit ihm
assoziiert.
44.
Der letzte Abschnitt des Zweiten Hauptstücks über den „freien Geist“ wird dazu
benutzt, eine scharfe Abgrenzung gegenüber denjenigen vorzunehmen, die ge-
meinhin als Freigeister oder Freidenker bezeichnet werden, für die es jedoch
charakteristisch ist, sich für die Gleichheit aller Menschen, für demokratische
Ideale, damit für Herden-Anliegen und eine zwar von religiöser Einkleidung
befreite, im Kern aber christliche Moral einzusetzen. „Der freie Geist“ ist all
das nicht, was der landläufige Freigeist ist - entsprechend groß ist die Gefahr
„verkannt und verwechselt“ (60, 25) zu werden. Das Verhältnis von JGB 44 zum
Nachlass untersucht eingehend Pichler 2015, 393-403, vgl. auch Mainberger
2001.
60, 25-61, 22 Aber, indem ich dies sage, fühle ich fast ebenso sehr gegen sie
selbst, als gegen uns, die wir ihre Herolde und Vorläufer sind, wir freien Geis-
ter! — die Schuldigkeit, ein altes dummes Vorurtheil und Missverständniss
von uns gemeinsam fortzublasen, welches allzulange wie ein Nebel den Begriff
„freier Geist“ undurchsichtig gemacht hat. In allen Ländern Europa’s und ebenso
in Amerika giebt es jetzt Etwas, das Missbrauch mit diesem Namen treibt, eine
sehr enge, eingefangne, an Ketten gelegte Art von Geistern, welche ungefähr das
Gegentheil von dem wollen, was in unsern Absichten und Instinkten liegt, — nicht
zu reden davon, dass sie in Hinsicht auf jene heraufkommenden neuen Philoso-
Wahrheiten zeugten einfach nur von schlechtem Geschmack. Dann kann JGB
43 ausblenden, dass der Wille herkömmlicher Philosophen nach einer verallge-
meinerten Wahrheit von einem ungleich stärkeren Machtwillen zeugt als die
vermutete Bescheidung der Zukunftsphilosphen mit ihrer je eigenen Wahrheit,
die sie nicht gemein machen wollen. Womöglich sind die Zukunftsphilosophen
ja wider Erwarten dekadent geschwächt?
60,12-19 „Gut“ ist nicht mehr gut, wenn der Nachbar es in den Mund nimmt.
Und wie könnte es gar ein „Gemeingut“geben! Das Wort widerspricht sich selbst:
was gemein sein kann, hat immer nur wenig Werth. Zuletzt muss es so stehn, wie
es steht und immer stand: die grossen Dinge bleiben für die Grossen übrig, die
Abgründe für die Tiefen, die Zartheiten und Schauder für die Feinen, und, im
Ganzen und Kurzen, alles Seltene für die Seltenen. —] Der Übergang in die mora-
lische oder moralgenealogische Sphäre vollzieht sich anscheinend leicht; aus
der Kritik an der Gemeinmachung der Wahrheit durch Verallgemeinerung er-
gibt sich die Kritik an der Gemeinmachung des Guten durch Verallgemeinerung
unmittelbar. Auch das Gute soll exklusiv sein - die Vornehmheit wird mit ihm
assoziiert.
44.
Der letzte Abschnitt des Zweiten Hauptstücks über den „freien Geist“ wird dazu
benutzt, eine scharfe Abgrenzung gegenüber denjenigen vorzunehmen, die ge-
meinhin als Freigeister oder Freidenker bezeichnet werden, für die es jedoch
charakteristisch ist, sich für die Gleichheit aller Menschen, für demokratische
Ideale, damit für Herden-Anliegen und eine zwar von religiöser Einkleidung
befreite, im Kern aber christliche Moral einzusetzen. „Der freie Geist“ ist all
das nicht, was der landläufige Freigeist ist - entsprechend groß ist die Gefahr
„verkannt und verwechselt“ (60, 25) zu werden. Das Verhältnis von JGB 44 zum
Nachlass untersucht eingehend Pichler 2015, 393-403, vgl. auch Mainberger
2001.
60, 25-61, 22 Aber, indem ich dies sage, fühle ich fast ebenso sehr gegen sie
selbst, als gegen uns, die wir ihre Herolde und Vorläufer sind, wir freien Geis-
ter! — die Schuldigkeit, ein altes dummes Vorurtheil und Missverständniss
von uns gemeinsam fortzublasen, welches allzulange wie ein Nebel den Begriff
„freier Geist“ undurchsichtig gemacht hat. In allen Ländern Europa’s und ebenso
in Amerika giebt es jetzt Etwas, das Missbrauch mit diesem Namen treibt, eine
sehr enge, eingefangne, an Ketten gelegte Art von Geistern, welche ungefähr das
Gegentheil von dem wollen, was in unsern Absichten und Instinkten liegt, — nicht
zu reden davon, dass sie in Hinsicht auf jene heraufkommenden neuen Philoso-