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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0329
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Stellenkommentar JGB 44, KSA 5, S. 61 309

in die Höhe gewachsen ist, vermeinen, dass dies jedes Mal unter den umgekehr-
ten Bedingungen geschehn ist, dass dazu die Gefährlichkeit seiner Lage erst in’s
Ungeheure wachsen, seine Erfindungs- und Verstellungskraft (sein „Geist“ — )
unter langem Druck und Zwang sich in’s Feine und Verwegene entwickeln, sein
Lebens-Wille bis zum unbedingten Macht-Willen gesteigert werden musste: — wir
vermeinen, dass Härte, Gewaltsamkeit, Sklaverei, Gefahr auf der Gasse und im
Herzen, Verborgenheit, Stoicismus, Versucherkunst und Teufelei jeder Art, dass
alles Böse, Furchtbare, Tyrannische, Raubthier- und Schlangenhafte am Men-
schen so gut zur Erhöhung der Species „Mensch“ dient, als sein Gegensatz: —
wir sagen sogar nicht einmal genug, wenn wir nur so viel sagen, und befinden
uns jedenfalls, mit unserm Reden und Schweigen an dieser Stelle, am andern
Ende aller modernen Ideologie und Heerden-Wünschbarkeit: als deren Antipoden
vielleicht?] Die Metapher vom Höhen-Wachstum der „Pflanze ,Mensch“4 be-
nutzte N. auch in NL 1885, KSA 11, 34[146], 469, 1-5 (hier ursprünglich nach
KGW IX 1, N VII1, 98, 2-15) um zu erklären, warum Aktualitäten wie die Grün-
dung des Deutschen Reiches einen nicht zu beschäftigen bräuchten: „Einem,
dem daran gelegen ist, unter welchen Bedingungen die Pflanze ,Mensch4 am
kräftigsten in die Höhe wächst, — einem solchermaaßen Beschäftigten ist das
Erscheinen einer neuen politischen Macht, heiße es nun rauclT , Reich4 [falls
sie nicht auf neue Gedanken sich stellt,] noch kein Ereigniß: er hat kaum Zeit,
sieh näher zuzusehn.44 Die Vorstellung vom Menschen als Pflanze, die Julien
Offray de La Mettrie bereits 1748 im Buchtitel L’homme plante verdichtet hat,
war in N.s Bilderhaushalt von 1884 an ein gern gesehener Gast (NL 1884, KSA
11, 27[59], 289, 19). Bei der Erweiterung der bloßen Metapher zur Allegorie
durch das der Menschenpflanze zugewiesene Wachstum kommt jene Dimensi-
on zum Tragen, um die es in JGB 44 zu tun ist: Dass nämlich erst Ungleichheit,
Härte optimale Bedingungen für das früchte- und blütenreiche Gedeihen schaf-
fen könnten. NL 1885, KSA 11, 34[74], 443, 1-11 (entspricht KGW IX 1, N VII 1,
147, 20-148, 4) ist da noch vorsichtig und bescheidet sich mit Fragen sowie der
Aussicht auf historische Studien: „Man kann die Philosophen auffassen als
solche, welche die äußerste Anstrengung machen, zu erproben, wie weit
sich der Mensch erheben könne, besonders Plato: wie weit seine Kraft
reicht. Aber sie thun es als Individuen; vielleicht war der Instinkt der Cäsaren,
der Staatengründer usw. größer, welche daran denken, wie weit der Mensch
getrieben werden könne, in der Entwicklung und unter »günstigen Umstän-
den4. Aber sie begriffen nicht genug, was »günstige Umstände4 sind. Große Fra-
ge: wo bisher die Pflanze »Mensch4 am prachtvollsten gewachsen ist. Dazu ist
das vergleichende Studium der Historie nöthig.44 Dezidierter klingt demgegen-
über NL 1885, KSA 11, 34[176], 479, 2-11 (entspricht KGW IX 1, N VII 1, 75, 44-
76, 13): „Wer aber darüber nachdenkt, wo und wie die Pflanze Mensch bisher
 
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