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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0332
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312 Jenseits von Gut und Böse

Begriff suggerieren könnte, dass hier eine Abfolge, eine Linie aufgezeichnet
werde. Eher aber werden markante Punkte, zwischen denen keine direkte Her-
kunftsbeziehung besteht, auf einer Landkarte der menschlichen Seele eingetra-
gen).
Gerade bei religiös interessierten Interpreten hat das Dritte Hauptstück
wiederholt dazu Anlass gegeben, die Religionsbedürftigkeit von N.s eigenem
Denken zu behaupten: „Nietzschean philosophy requires a religious ideal for
its perfection“ (Lomax 2003, 81, kritisch dazu Bornedal 2006b, 346). Dabei
dient der Abschnitt im Gegenteil dem Bemühen, die Bedeutung des Religiösen
zu nivellieren, es als ein „Beispiel“ (JGB 45, KSA 5, 65, 22) für die Pathologie
der menschlichen Seele herauszustellen (vgl. Burnham 2014, 74). In der Histo-
risierung und Distanzierung religiöser Phänomene erschöpft sich das Dritte
Hauptstück freilich nicht: Die letzten beiden Abschnitte fragen nach dem »Nut-
zen und Nachteil der Religion für das Leben4. Während JGB 62 die negative,
lebensmindernde Bilanz des Religiösen im abendländischen Kulturkontext
zieht, deutet JGB 61 Religion als Instrument des Philosophen „zu seinem Züch-
tungs- und Erziehungswerke“ (KSA 5, 79, 18 f.). Religion erscheint damit nicht
mehr als Selbstzweck, sondern als Mittel zu anderen Zwecken: dem Zweck der
Menschendomestizierung in der Vergangenheit, dem Zweck der Menschen-
züchtung in der Zukunft.
45.
JGB 45 bietet einen metaphernreichen Einstieg in die Religionsproblematik als
Problematik bestimmter Seelen(zustände), die den Jagdinstinkt eines „gebore-
nen Psychologen“ (65, 8) weckt, der jedoch keine „Jagdgehülfen“ und „Spür-
hunde“ (65, 12) findet - oder mit dem namentlich genannten Blaise Pascal
doch nur in der Vergangenheit, so dass „man“ (66, 7 u. ö.) alle Arbeit allein
erledigen müsse (vgl. N. an Elisabeth und Bernhard Förster, 29. 07.1885: „Ich
sehe mit Trauer, daß sich noch Nichts, noch Niemand für mich ankündigt, der
mir einen Th eil meiner Arbeit abnähme.“ KSB 7/KGB III/3, Nr. 614, S. 71,
Z. 29-31). Diese radikale Einsamkeit und Gefährtenlosigkeit - nicht als Asket,
sondern als von Neugierde, damit von Lust getriebener Jäger - versucht auch
Jesus zu überbieten: Dieser wusste doch immerhin Jünger um sich zu scharen,
mit denen er allerdings nicht auf die Jagd ausging, sondern auf Menschenfi-
scherei (Lukas 5, 10). Während Jesus seine Beute, nämlich Menschen, klar be-
nennt, ist in JGB 45 zwar vom „Jagdbereich“ (65, 9) die Rede, nämlich der
„Geschichte der menschlichen Seele“ (65, 13), auch davon, dass dieses Revier
,,gefährlich[.]“ (65, 18) sei; was er genau jagen will, sagt der psychologische
Waidmann indes nicht - nur, dass es ihm „um das Problem von Wissen
 
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