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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0336
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316 Jenseits von Gut und Böse

einem Übersinnlichen identifiziert werden musste. UB III SE 8 schließt mit der
Einsicht, „dass die Liebe zur Wahrheit etwas Furchtbares und Gewaltiges ist“
(KSA 1, 427, 14 f., vgl. z.B. NL 1880, KSA 9, 3[4], 48; NL 1882, KSA 10, 3[1]232,
80, 19-2). Jedoch kann die Wahrheitsliebe bei N. je nach Kontext auch etwas
Naives oder Zwanghaftes haben, vgl. JGB 9, KSA 5, 22,15; oder bloß dem rheto-
rischen Aufputz dienen, vgl. JGB 230, KSA 5, 169, 10.
Dass die Wahrheitsliebe „ihren Lohn im Himmel“ habe, parodiert Jesu Se-
ligpreisung nach Lukas 6, 23, die N. später in AC 45 in extenso zitieren sollte
(vgl. NK KSA 6, 222, 19-22): „Freuet euch alsdann, und hüpfet: denn siehe,
euer Lohn ist groß im Himmel.“ (Die Bibel: Neues Testament 1818, 75). Im
2. Thessalonicher 2, 10 ist von „allerlei Verführung zur Ungerechtigkeit unter
denen“ die Rede, „die verloren werden, dafür daß sie die Liebe zur Wahrheit
nicht haben angenommen, auf daß sie selig würden“ (Die Bibel: Neues Testa-
ment 1818, 248). Und auch Pascal hatte in einer Randnotiz zur fragmentari-
schen 19. Lettre provinciale notiert: „On attaque la plus grande des verites chre-
tiennes, qui est l’amour de la verite“ (Pascal 1864,1, 215. „Man greift die größte
der christlichen Wahrheiten an, die die Liebe zur Wahrheit ist.“). Die Wahr-
heitsliebe der freigewordenen Geister hat ihren „Lohn im Himmel“ hingegen
insofern, als sie Gott und sonstige übersinnliche Wesen aus diesem Himmel
vertreibt - aber eigentlich liegt der „Lohn“ in ihr selbst „auf Erden“: Wie die
Tugend der klassischen Philosophie besteht in ihrer Verwirklichung bereits das
Glück.

46.
JGB 46 nimmt wesentliche Elemente der Kritik an christlicher Religion, Moral
und Kultur in AC vorweg; erstmals in einem Werk benutzt N. hier auch den
Terminus einer „Umwerthung aller [...] Werthe“ (67, 9 f.), allerdings noch nicht
zur Beschreibung eines eigenen Projekts, vielmehr im Gegenteil zur Charakteri-
sierung des Christentums, das alle „antiken Werthe“ hätte umwerten wollen.
Die Konfrontation von entstehendem Christentum und heidnischer Gesell-
schaft inszeniert den Konkurrenzkampf zwischen zwei unversöhnlichen Wert-
haltungen: einerseits auf pagan-römischer Seite ,,frivole[.] und vornehme[.] To-
leranz“ (67, 12), „Freiheit“, ,,Stolz[..]“, „Selbstgewissheit“ (66, 27); andererseits
auf christlich-orientalischer Seite die „Opferung“ (66, 26) all dieser Tugenden,
das Überhandnehmen der sklavischen Werte, die „Verknechtung“, „Selbst-Ver-
höhnung“ und „Selbst-Verstümmelung“ (66, 28 f.). Die Konfrontation der anta-
gonistischen Moralen endet mit dem Sieg des Christentums und seiner sklavi-
schen Präferenzen.
 
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