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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0346
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326 Jenseits von Gut und Böse

lige Bettler, KSA 4, 335, 21). Während JGB 46 die Französische Revolution als
einen „Sklaven-Aufstand“ identifiziert, deutet JGB 195, KSA 5, 117, 5-9 nicht
ein einmaliges Ereignis, sondern vielmehr eine mentalitäre Entwicklung, näm-
lich die im Judentum (zur Zeit des Babylonischen Exils und als Reaktion da-
rauf?) vollzogene Umwertung aristokratischer Werte als „Sklaven-Auf-
stand in der Moral“ (ebd., 8f., vgl. ausführlich NK 116, 29-117, 9). In die-
sem Sinne wird der Terminus in GM I 7, KSA 5, 268, 2 und GM I 10, KSA 5,
270, 25 reproduziert und erhält erst durch diese von den Interpreten häufig mit
Antisemitismus assoziierte Zuspitzung auf die Werteentwicklung im Judentum
seine Brisanz. Aufschlussreich ist, dass in den Notaten ab 1883, in denen „Skla-
venaufstand“ vorkommt, das Judentum keine Rolle spielt (vgl. NL 1883, KSA
10, 21[4], 600, 29; NL 1884, KSA 11, 25[84], 30, 27), sondern eine Tendenz be-
schrieben wird, die noch nicht an einer bestimmten Religion oder einem be-
stimmten Volk festgemacht wird: „Das Überhandnehmen der sklavischen
Gesinnung in Europa: der große Sklaven-Aufstand.“ (NL 1884, KSA 11, 25[70],
27, 13 f.) Pauschal heißt es in NL 1884, KSA 11, 25[256], 79, 4f.: „Die Geschichte
Europas seit der römischen Kaiserzeit ist ein Sklavenaufstand.“ Konkret mit
Religion und mit Politik kommt der Sklavenaufstand erst in NL 1884, KSA 11,
26[324], 235, 12-17 auf einen Nenner: „Der große Pöbel- und Sklavenaufstand /
die kleinen Leute, welche nicht mehr an die Heiligen und großen Tugendhaf-
ten glauben (z. B. Christus, Luther usw. / die Bürgerlichen, welche nicht mehr
an die höhere Art der herrschenden Kaste glauben (z. B. Revolution)“. Der Be-
griff „Sklavenaufstand“ ist im 19. Jahrhundert sehr geläufig - natürlich bezo-
gen insbesondere auch auf die zeitgenössischen abolitionistischen Bewegun-
gen. Aber schon 1846 konnte man im Volks-Conversations-Lexikon lesen: „die
unterdessen mit Blut, Blitzen und verheerenden Stürmen heraufgezogene fran-
zösische Revolution verwirrte die Zirkel berechnender Politik. Das ungeheure
Ereigniß ward von Vorurtheil, Beschränktheit und Dünkel in jeder Weise be-
nutzt. Der Aristocratenhochmuth sah in derselben einen Sklavenaufstand, der
schnell wieder gedämpft und streng gestraft werden würde.“ (Allgemeines
deutsches Volks-Conversations-Lexikon 1846, 2, 441) Zur systematischen Rele-
vanz des bei N. zu findenden Konzepts des „Sklavenaufstands“ vgl. z. B. Marti
1993.

47.
Für Interpreten, die wie Lampert 2001, 112-114 N. ein religiöses oder religions-
stifterisches Interesse unterstellen, stellt Abschnitt 47, der Religion insgesamt
zu pathologisieren scheint und „das religiöse Wesen“ und „religiöse Neurose“
(68, 25 f.) ausdrücklich gleichsetzt, ein Problem dar. Die gesunde Religion, die
 
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