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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0359
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Stellenkommentar JGB 49, KSA 5, S. 70 339

meren, mächtigeren und einer weniger vornehmen zu denken [...]. Das ist das
Vornehme in der griechischen Religiosität.“ (115, 32-116,14) Hier ist „Dankbar-
keit“ also noch einer aus einer Reihe von Umständen, die die Entstehung von
Religion begünstigen - und hier ist es auch noch nicht die heidnisch-griechi-
sche Religion, die die „Dankbarkeit“ in besonderer Weise kultiviert hätte. In
der in AC formulierten Kritik wird zwischen Religion als einer lebensbejahen-
den „Form der Dankbarkeit“ (AC 16, KSA 6, 182, 17) und einem lebensvernei-
nenden Produkt des Ressentiment differenziert; auch hier gilt die „Dankbar-
keit“ nicht als Besonderheit der altgriechischen Religion, sondern sie wird bei-
spielsweise auch im alten Israel gefunden (vgl. zu den Quellen NK 6/2, S. 97-
99 u. S. 132).
Orsucci 1996, 274 verweist im Blick auf JGB 49 auf Leopold Schmidts Ethik
der alten Griechen, der zufolge „ein Zug freudiger Dankbarkeit gegen die Spen-
der der guten Gaben dem griechischen Volksgemüth tief eingeprägt war“
(Schmidt 1882, 2, 39, vgl. TI f.). Nach Schmidt bestimmte dieser Zug auch die
Haltung des Sokrates, „als er in seinen Gesprächen mit solchen Zeitgenossen,
die sich aus Zweifelsucht den Cultuspflichten entzogen, auf das zur Dankbar-
keit auffordernde Wohlwollen gegen das Menschengeschlecht hinwies, wel-
ches die Götter durch die Einrichtung des menschlichen Körpers und der Na-
turumgebung des Menschen bethätigt haben“ (Schmidt 1882, 1, 144). Allge-
mein wird festgehalten, „dass das Opfer, das zu allen Zeiten einen der
wesentlichsten Bestandtheile sowohl des von Einzelnen als des von Gesammt-
heiten geübten Cultus gebildet hat, in seinen verschiedenen Formen gleichfalls
vornehmlich bestimmt war der Dankbarkeit für die Gaben der Götter Ausdruck
zu geben“ (Schmidt 1882, 2, 40). Schließlich widmete Schmidt der Dankbarkeit
in der griechischen Moral einen ganzen Absatz (ebd., 306-309).
Dass Religion statt auf Dankbarkeit auf Furcht, nämlich vor den als über-
mächtig und bedrohlich gedachten Gottheiten gründe, gehört zu den ältesten
religionskritischen Argumenten, in der klassisch-römischen Formulierung:
„Primus in orbe deos fecit timor.“ (Publius Papinius Statius: Ehehais III 661.
„Zuerst hat die Furcht in der Welt Götter geschaffen.“ Dazu Sommer 2000a,
475, Fn. 1. Der Satz wird auch zitiert bei Bahnsen 1882, 2, 408, vgl. NK 72, 26-
73, 3.) Religionswissenschaftlich aufbereitet, kehrt der Gedanke beispielsweise
in Hellwalds Kulturgeschichte wieder, wenn es dort heißt, „bei den Hebräern“
sei der Kult Jahvehs „auf das Gefühl der Furcht“ gegründet gewesen (Hellwald
1883-1884, 1, 278). In Schmidts Ethik der alten Griechen gehört die Furcht
durchaus zum angestammten griechischen Gefühlsrepertoire (vgl. Schmidt
1882, 176-184 u. 220; zu Aiödx; bei Schmidt siehe NK 57, 27-29), während Jacob
Burckhardt in seinem Buch über Die Zeit Constantin’s des Großen historisch
konkreter wurde und für die Spätantike als eine „Ursache des Ueberhandneh-
 
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