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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0361
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Stellenkommentar JGB 50, KSA 5, S. 70-71 341

165, 26-166, 1) Bis hin zum Adjektiv „frauenhaft“ bildet diese Stelle wohl die
Vorlage zur Guyon-Passage in JGB 50, die jedoch die in M192 noch „vornehme“
Leidenschaft ins Anzügliche zuspitzt: die Rede vom Trachten nach „unio mys-
tica et physica“, „mystischer und körperlicher Einheit“ mit Gott unterstellt,
Madame Guyon habe sich nicht nur die spirituelle Vereinigung, sondern ei-
gentlich sexuelle Vereinigung mit Gott/Christus erhofft. Der Begriff der unio
mystica oder evojok; puoriKq ist von Makarios (Symeon von Mesopotamien)
und von Pseudo-Dionysios Areopagita zwar schon früh verwendet worden,
stand bei Guyon jedoch nicht im Vordergrund, so wichtig er für die mystische
Tradition, aus der sie stammte, auch sein mag.
Orsucci 1996,174-176 macht plausibel, dass N. für sein Panorama französi-
scher Rückzugsfrömmigkeit in M 192 in Martensens Christlicher Ethik Anregung
gefunden hat. Zu Guyon heißt es dort: „Dieses ,Hinausgehen über4 die Sünde
und die Gnade, zeigt sich namentlich bei der Frau von Guyon, wenn sie erklärt,
nicht mehr beten zu können: ,Vergieb uns unsere Schuld4; denn sie liebe Gott
in vollkommener Selbstvergessenheit“ (Martensen 1883, 421). Dennoch dürfte
Martensen nicht die einzige Quelle für N.s Guyon-Kenntnis gewesen sein; bei-
spielsweise käme auch Sainte-Beuve in Frage. Und der von N. angestellte Ver-
gleich mit Paulus erinnert an eine oft wiederholte Polemik des Quietismus-
Feindes Jacques Benigne Bossuet gegen Guyon, die sich eine Christus-Nähe
anmaße, die schon bei Paulus grenzwertig sei. Bossuets Einwand wurde bei-
spielsweise von Heinrich Heppe in seiner Geschichte der quietistischen Mystik
kolportiert (Heppe 1875, 381).
Frederik Willem van Eeden sprach N. nach der Lektüre seiner Werke im
Brief vom 23.10.1885 auf Guyon an: „Eher glaube ich dass eine immer weitere
intellektuelle Umfassung der Welt in allen ihren Äusserungen, ein Aufgehen
in das Ganze, und dadurch zuletzt gänzliche Aufhebung unserer Persönlich-
keit, die höchste Moral sein muss. Dies kann kein Nihilismus sein, - vielmehr
Totalismus. Es ist Quietismus, aber ohne den düsteren mystischen einseitig
religiösen Sinn Frau Guyon’s. Spinoza und Frau Guyon, diese sind glaub ich,
Vater und Mutter einer neuen und freien Gedankenwelt.“ (KGB III 4, Nr. 305,
S. 66, Z. 28-36, vgl. NK 136, 12.) Vgl. auch NK KSA 6, 113, 12-16.
71, 4-9 In vielen Fällen erscheint sie wunderlich genug als Verkleidung der Pu-
bertät eines Mädchens oder Jünglings; hier und da selbst als Hysterie einer alten
Jungfer, auch als deren letzter Ehrgeiz: — die Kirche hat das Weib schon mehr-
fach in einem solchen Falle heilig gesprochen.] Das „sie“ im ersten Teilsatz be-
zieht sich noch immer auf „[d]ie Leidenschaft für Gott“ in 70, 26: JGB 50 fächert
ein religionsphänomenologisches Panorama verschiedener Arten dieser Lei-
denschaft auf, die sich freilich allesamt als psychisch krankhaft erweisen.
 
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