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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0362
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342 Jenseits von Gut und Böse

51.
Eine frühere Fassung dieses Abschnitts findet sich in KGW IX 5, W I 8, 245 f.
Wie JGB 50 handelt auch JGB 51 von leidenschaftlichen Gottsuchern, „Heili-
gen“, die jetzt jedoch nicht nach ihrer psychopathologischen Disposition hin
befragt werden, sondern nach der Herkunft ihrer Faszinationskraft für „die
mächtigsten Menschen“ (71, 11): Diese beugten die Knie vor den „Heiligen“,
weil sie in deren Askese und „Selbstbezwingung“ (71, 12 f.) nicht Schwäche,
sondern die „Stärke des Willens“, ihre „eigne Stärke“ (71,17) wiedererkennten
und zugleich weiter zur Frage getrieben würden, ob an dem, für das diese „Hei-
ligen“ ein „solches Ungeheures von Verneinung“ (71, 21), einen solchen Einsatz
wagten, nicht etwas dran sein müsste. Daher infiziere der Heilige „die Mächti-
gen der Welt“ (71, 25 f.) mit einer ,,neue[n] Furcht“ (71, 26), deren Gehalt unaus-
gesprochen bleibt, aber doch offensichtlich alles in Frage zu stellen vermag,
was „Mächtigen“ als gut und wertvoll gilt: nämlich Lebensbejahung, Diesseits-
Orientierung. Auch im „Heiligen“ ist genau das wirksam, was die „Mächtig-
sten“ antreibt: „der ,Wille zur Macht4 war es, der sie nöthigte, vor dem Heiligen
stehen zu bleiben. Sie mussten ihn fragen-“ (71, 27-29).
JGB 51 bringt einen jener en-passant-Be\ege für die in JGB 36, KSA 5, 55,
23-34 (hypo)thesenhaft propagierte Universalität des „Willens zur Macht“. Der
„Heilige“ ist also nicht nur wie in JGB 50 ein Fall für den Psychiater, sondern
in seiner scharfen Ausprägung auch eine exemplarische Erscheinungsform des
„Willens zur Macht“. Während JGB 51 noch viel Verständnis für die „Mächti-
gen“ signalisiert, die sich der Faszination des „Heiligen“ nicht entziehen kön-
nen, werden sie doch allesamt vom „Willen zur Macht“ beherrscht, sollte N.
zwei Jahre später im antichristlichen Abwehrkampf keinen Hehl daraus ma-
chen, wie sehr ihm die Willfährigkeit der Mächtigen gegenüber den Christen
missfiel (AC 38, vgl. NK KSA 6, 211, 2-5). Der Kontext der Äußerungen ist frei-
lich ein anderer: hier ein religionsphänomenologischer im Bestreben, die Ubi-
quität des Machtwillens zu demonstrieren, dort ein polemischer im Bestreben,
die moralisch-lebensweltliche Macht des Christentums, seinen Machtwillen zu
brechen. Man beachte, dass JGB 51 nach einem Beginn im Perfekt über die
Faszination der „mächtigsten Menschen“ durch den „Heiligen“ im Imperfekt
fortfährt, um damit anzuzeigen, dass diese Faszination nunmehr ihr Ende fin-
den sollte.
71, 12 f. Räthsel der Selbstbezwingung] Die Vokabel der „Selbstbezwingung“
wandte N. in MA I 171, KSA 2, 159, 14-16 zunächt gepaart mit „Strenge“ auf
den „Künstler“ an, der ihrer bedürfe (vgl. NL 1883, KSA 10, 16[51], 516, 20 f. u.
JGB 62, KSA 5, 83,18-20), benutzte sie aber bald schon als tertium comparatio-
nis in einem „Vergleich mit Pascal“: „haben wir nicht auch unsere Stärke in
 
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