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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0365
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Stellenkommentar JGB 52, KSA 5, S. 72 345

Weltgeltungsdünkel im Zeitalter des Imperialismus. Vorweggenommen ist die
Formulierung in MA II WS 215, wo jedoch der Raum Europas ausdrücklich über
seine geographische Grenze hinaus erweitert wird: „Hier, wo die Begriffe »mo-
dern4 und »europäisch4 fast gleich gesetzt sind, wird unter Europa viel mehr an
Länderstrecken verstanden, als das geographische Europa, die kleine Halb-
insel Asien’s, umfasst: namentlich gehört Amerika hinzu, soweit es eben das
Tochterland unserer Cultur ist. Andererseits fällt nicht einmal ganz Europa un-
ter den Cultur-Begriff »Europa4; sondern nur alle jene Völker und Völkertheile,
welche im Griechen-, Römer-, Juden- und Christenthum ihre gemeinsame Ver-
gangenheit haben.44 (KSA 2, 650, 21-29; vgl. dazu auch Stegmaier 2012, 357.)
Manche Interpreten halten die die Charakterisierung Europas als eigentlich zu
Asien gehörende Halbinsel für eine besonders ingeniöse Idee N.s, einem kul-
turgeschichtlichen Sachverhalt ein geographisches Rückgrad zu geben und
dafür eine neue Metapher zu erfinden. Indes ist die Idee keine originelle Meta-
pher, sondern einfach ein Topos der einschlägigen geographischen Fachlitera-
tur, die auch im 19. Jahrhundert Asien und Europa als eine kontinentale Einheit
begriff. N. ist dieser Topos bereits aus dem Lehrbuch der Geographie für höhere
Unterrichtsanstalten von Hermann Adalbert Daniel bekannt gewesen, das er
1858 als Vierzehnjähriger bekam. Dort heißt es: „Asien, der größte Erd-
theil ([...]), wird von Afrika deutlich [...] geschieden; schwerer läßt sich die
Westgränze gegen Europa bestimmen, das eigentlich nur als eine nord-
westliche, stark gegliederte Halbinsel Asiens anzusehen ist“. Nur „Herkommen
und noch mehr die Entwicklung der Geschichte“ rechtfertigten es, Europa als
„besondern Erdtheil“ hinzustellen (Daniel 1857, 49). Im Europa gewidmeten,
dritten Buch seines Werkes wird Daniel noch deutlicher: „Auf den ersten Blick
will E [uropa] gar nicht als besonderer Erdtheil erscheinen, sondern nur als vor-
gelagerte Halbinsel Asiens. Allein selbst als solche aufgefaßt unterscheidet es
sich doch auf erhebliche und auffallende Weise von den übrigen asiatischen
Halbinseln. [...] Wird nun bei alle dem die Geschichte, in welcher Europa als
Mittelglied des Weltverkehrs erscheint, zu Rathe gezogen, so erscheint die Be-
rechtigung, als besonderer Erdtheil aufzutreten, wohl begründet.“ (Daniel 1857,
160) Genau diese zur Schulbuchweisheit geronnene Rechtfertigung, Europa
wegen seiner großen „Geschichte“ und weil es so herrlich weit entwickelt sei,
ins Zentrum des Weltgeschehens zu rücken, ironisiert JGB 52: Angesichts der
Größe der „Menschen“ und „Dinge“ in der alttestamentlichen Welt stellt sich
der angebliche spätere „Fortschritt“ in Asien einschließlich Europa als Nieder-
gang dar. Auch in John William Drapers Geschichte der geistigen Entwickelung
Europas konnte N. die Halbinselidee finden: „Europa ist in geographischer Be-
ziehung eine Halbinsel und in historischer eine Dependenz von Asien.“ (Dra-
per 1871, 18, vgl. Benne 2002, 236, Fn. 27).
 
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