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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0366
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346 Jenseits von Gut und Böse

Karl Jaspers war N.s Bemerkung in 72, 7-10 so wichtig, dass er in seinem
Handexemplar von JGB auf dem Vorsatz als einziges notierte: „S. 77 »Halbinsel
Europa“4 (Nietzsche 1923, Vorsatzblatt).
72, 10-24 Freilich: wer selbst nur ein dünnes zahmes Hausthier ist und nur
Hausthier-Bedürfnisse kennt (gleich unsren Gebildeten von heute, die Christen
des „gebildeten“ Christenthums hinzugenommen —), der hat unter jenen Ruinen
weder sich zu verwundern, noch gar sich zu betrüben — der Geschmack am alten
Testament ist ein Prüfstein in Hinsicht auf „Gross“ und „Klein“ vielleicht, dass
er das neue Testament, das Buch von der Gnade, immer noch eher nach seinem
Herzen findet (in ihm ist viel von dem rechten zärtlichen dumpfen Betbrüder-
und Kleinen-Seelen-Geruch). Dieses neue Testament, eine Art Rokoko des Ge-
schmacks in jedem Betrachte, mit dem alten Testament zu Einem Buche zusam-
mengeleimt zu haben, als „Bibel“, als „das Buch an sich“: das ist vielleicht die
grösste Verwegenheit und „Sünde wider den Geist“, welche das litterarische Euro-
pa auf dem Gewissen hat.] Vgl. GM III 22, KSA 5, 393, 28-394, 3: „Im neuen [sc.
Testament] dagegen lauter kleine Sekten-Wirthschaft, lauter Rokoko der Seele,
lauter Verschnörkeltes, Winkliges, Wunderliches, lauter Conventikel-Luft,
nicht zu vergessen einen gelegentlichen Hauch bukolischer Süsslichkeit, wel-
cher der Epoche (und der römischen Provinz) angehört und nicht sowohl jü-
disch als hellenistisch ist. Demuth und Wichtigthuerei dicht nebeneinander;
eine Geschwätzigkeit des Gefühls, die fast betäubt; Leidenschaftlichkeit, keine
Leidenschaft; peinliches Gebärdenspiel; hier hat ersichtlich jede gute Erzie-
hung gefehlt.“ Das Bild, das in GM III 23 und JGB 52 vom frühen Christentum
gezeichnet wird, ist die Karikatur der Eindrücke, die N. beispielsweise aus der
Lektüre von Ernest Renans mehrbändiger Histoire des origines du Christianisme
gewinnen konnte (vgl. NK 69, 28-32). Von diesem Werk lassen sich ab 1884 in
N.s Nachlass und Briefen vermehrt Spuren finden (z. B. NL 1884, KSA 11,
25[149], 53, 12-16). Renan sprach im Blick auf Flavius Josephus’ Antiquitates
Judaicae und die christlichen Kreise, die sich dieses Werk zu eigen gemacht
haben, ebenso wie N. in GM III 22 von der Hellenisierung des Jüdischen
(,,[l]’histoire juive prenait l’allure dune histoire hellenique“ - Renan 1877,
249 - „die jüdische Geschichte machte den Anschein einer hellenischen Ge-
schichte“) und von der allerdings verschütteten Naivität des Alten Testaments
(,,[u]n rationalisme discret jetait un voile sur les merveilles trop naives des
anciens livres hebreux“ - ebd. - „ein diskreter Rationalismus warf einen
Schleier über die zu naiven Wundersamkeiten der alten hebräischen Bücher“).
Gegen die hier wirkmächtigen Tendenzen zur Rationalisierung und Humanisie-
rung der Bibel, die von der Absicht getragen waren, sie allgemein akzeptabler
zu machen, wandte Renan ein, das Werk des Flavius Josephus „ne depasse
point en valeur, aux yeux de l’homme de goüt, une de ces Bibles fades du
 
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