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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0368
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348 Jenseits von Gut und Böse

nicht, — und wenn er hörte, wüsste er trotzdem nicht zu helfen. Das Schlimmste
ist: er scheint unfähig, sich deutlich mitzutheilen: ist er unklar? — Dies ist es, was
ich, als Ursachen für den Niedergang des europäischen Theismus, aus vielerlei
Gesprächen, fragend, hinhorchend, ausfindig gemacht habe; es scheint mir, dass
zwar der religiöse Instinkt mächtig im Wachsen ist, — dass er aber gerade die
theistische Befriedigung mit tiefem Misstrauen ablehnt.] Den allseitigen Kredit-
verlust des traditionellen christlichen Vater- und Richter-Gottes erörtert Zara-
thustra im Gespräch mit dem „Papst außer Dienst“ in Za IV Äusser Dienst,
KSA 4, 323-325, wo überdies in Anspielung auf die zweifelhafte göttliche Vater-
schaft bei Jesus die fromme Vorstellung vom deus absconditus (siehe NK 16,12)
ironisiert wird: „Es war ein verborgener Gott, voller Heimlichkeit. Wahrlich zu
einem Sohne sogar kam er nicht anders als auf Schleichwegen. An der Thür
seines Glaubens steht der Ehebruch.“ (KSA 4, 323, 32-34). JGB 53 treibt diese
Ironisierung weiter, indem er die Verborgenheit Gottes als Unfähigkeit auslegt,
„sich deutlich mitzutheilen“ (72, 30): Der Gott, von dem hier die Rede ist, und
den Juden und Christen einhellig als den (einzigen) Gott ansehen, der sich
selbst offenbart und zu den Menschen redet - dieser Gott ist tatsächlich gar
nicht in der Lage, klar zu sagen, wer er ist und was er will, hat doch spätestens
die historisch-kritische Erforschung der Bibel gezeigt, wie vieldeutig und wi-
dersprüchlich die nach kirchlicher Überzeugung so unmissverständlichen Of-
fenbarungsworte sind.
Die Prädikate „Vater“, „Richter“, „Belohner“ (72, 26 f.) werden dem christli-
chen Gott topisch zugeschrieben (z. B. bei Lavater, vgl. Geßner 1802, 1, 178);
an ihnen entzündete sich auch schon lange vor N. der religiöse Zweifel. So ließ
Wilhelm Martin Leberecht de Wette (vgl. zu N. und de Wette Pernet 2014, 170-
175 u. passim) in seinem erfolgreichen religiösen Bildungsroman Theodor oder
des Zweiflers Weihe den Protagonisten die Prädikate „Belohner“ und „Richter“
einer kantianisierenden Pflichtethik opfern: „Die Tugend an sich bedarf Gottes
nicht, sie hat ihr Gesetz und ihre Kraft in der Vernunft; nur damit sie im Kamp-
fe mit der Sinnlichkeit desto leichter siege, muß ein allmächtiger Gott seyn als
Richter und Belohner: welch ein stolzer, aber auch trostloser Gedanke!“ (Wette
1828, 24) Mit solchen Überlegungen kommt Theodor dann auch die Hoffnung
auf Gott in seinem dritten Prädikat abhanden: „Er fühlte sich so allein und
trostlos mit seiner selbstständigen, sich selbst genügsamen Vernunft, gleich
einem Kinde, das seinen Vater verloren hat. Ihm war der himmlische Vater
geraubt“ (ebd., 25). Während de Wette als Vermittlungstheologe seinem Helden
bei der Rückgewinnung Gottes als Vater, Richter und Belohner behilflich war,
ließ sich der N. wohlbekannte intellektuelle Anarchist Pierre-Joseph Proudhon
in seinem antitheistischen Furor nicht besänftigen, ,,[d]enn Gott, das ist
Dummheit und Feigheit; Gott, ist Heuchelei und Lüge; Gott, ist Tyrannei und
 
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