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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0378
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358 Jenseits von Gut und Böse

Schauspiele, und nicht nur zu einem Schauspiele, sondern im Grunde zu Dem,
der gerade dies Schauspiel nöthig hat — und nöthig macht: weil er immer wieder
sich nöthig hat — und nöthig macht-Wie? Und dies wäre nicht — circulus
vitiosus deus?] Dieser vieldiskutierte Abschnitt besteht aus einem einzigen
Satz, dem in der letzten Zeile ein syntaktisch isoliertes Fragepronomen
(„Wie?“) und ein immerhin aus sieben Worten bestehender Fragesatz nachge-
schoben werden (75, 10). Die Aufmerksamkeit der Forschung erklärt sich ers-
tens daraus, dass man in JGB 56 ein Bekenntnis zu der immer wieder als eine
,Hauptlehre‘ N.s verstandenen „Ewigen Wiederkunft“ vor sich zu haben wähn-
te, zumal bereits die erste Zeile 74, 23 mit dem Personalpronomen der 1. Person
im Dativ („mir“) den direkten Bezug zum Autorsubjekt N. herzustellen und
damit den Bekenntnischarakter zu unterstreichen scheint. Es wäre die einzige
Stelle in JGB, in der die „Ewige Wiederkunft“, freilich ohne Benutzung des
Ausdrucks, explizit thematisiert wird. Zweitens hängt diese forschende Auf-
merksamkeit daran, dass N. hier vom Modus der Negation, der namentlich im
Dritten Hauptstück gegen die herkömmliche(n) Religion(en) vorherrscht, ver-
meintlich in den Modus der Affirmation wechselte. Manche Interpreten be-
haupten deshalb, N. habe hier eine „religion of the future“ (Lampert 2001, 114
u. ö.) verkünden wollen, die reine Bejahung sei (dazu kritisch Tongeren 2010,
623 f.), während andere darin ein ästhetisches Spiel aus gottverlassener Ver-
zweiflung zu erkennen wähnen (vgl. Voegelin 1988, 85 f.). Drittens schließlich
gilt die Aufmerksamkeit der rätselhaften Formel „circulus vitiosus deus“ (75,
10) am Schluss des Abschnitts, die exegetische (Toll-)Kühnheiten herausfor-
dert, etwa in der Identifikation dieses zirkulär-vitiösen Gottes mit Dionysos als
„beständiges Sich-Selbst-Verlieren und ein beständiges Sich-Selbst-Wiederfin-
den von zahllosen Göttern“ (Klossowski 1986,106; dazu Reckermann 2003, 26).
Zunächst einmal ist festzuhalten, dass JGB 56 den Gedankengang von JGB
55 fortsetzt und eine vierte Sprosse auf der ,,grosse[n] Leiter der religiösen
Grausamkeit“ (JGB 55, KSA 5, 74, 2) in Aussicht stellt, nämlich ein Umschlagen
des „in die Tiefe“ gedachten „Pessimismus“ (JGB 56, KSA 5, 74, 24) in „das
Ideal des übermüthigsten lebendigsten und weltbejahendsten Menschen“ (75,
2f.). „Wer“ (74, 23) den Pessimismus bis zu Ende denkt und - distanziert von
allen europäischen Befangenheiten „mit einem asiatischen und überasiati-
schen Auge“ (74, 28) - die mit dem waghalsigen Superlativ „weltverneinends-
te“ umrissene „Denkweise[.]“ durchschaut hat, dem kann sich „vielleicht“ das
„das umgekehrte Ideal“ eröffnen. Dies ist das Ideal nicht eines Gottes, sondern
des - diesmal mit dreifachem Superlativ gekennzeichneten („übermüthigsten
lebendigsten und weltbejahendsten“) - Menschen, der nicht bloß, wie der ab-
gebrühte oder willenssedierte Pessimist, alles Gegebene als unveränderlich
hinnimmt, vielmehr nach dessen ewiger Wiederholung ruft. Der Pessimist
 
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