Metadaten

Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0385
License: Free access  - all rights reserved
Overview
loading ...
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
Stellenkommentar JGB 59, KSA 5, S. 75-78 365

dass die Arbeit schändet und der Freigeborene eine ,Musse4 haben müsse,
die Millionen Menschen zu Gunsten einiger hundert Tausend zu einem thier-
ähnlichen Dasein verdammt.“ (Oncken 1870, 1, 190) Freilich haben nach On-
cken die (arbeits)freien Griechen ihre Muße keineswegs zur Hauptsache auf
,,religiöse[s] Leben“ angewandt (75, 26 f.). JGB 58 erbringt weder den Beweis,
dass Müßiggang per se vornehm sei (waren die Aristokraten in grauer Vorzeit,
von denen N.s Texte sonst zu schwärmen lieben, nicht als Krieger höchst aktiv
und der Muße abgeneigt?), noch den Beweis, dass Religion auf Muße gründen
muss: Hätte das Christentum Weltreligion werden können, wenn seine Anhän-
ger vor allem Müßiggänger gewesen wären? Vgl. NK KSA 6, 59, 3 f. u. Lehmann
1879,166: „Wenn man die Müßiggänger abschaffen könnte, so würden alle Las-
ter abgeschafft.“
76, 3 schändet] In KGW IX 5, W I 8, 190, 35-43 folgt hier, allerdings gestri-
chen: „Bei deutschen Adeligen findet sich deshalb noch ein gutes Theil Fröm-
migkeit, ebenfalls bei den Frauen jener Stände, welche ihre Frauen als ihre
vornehmere Hälfte mit Muße betrachtet“ (vgl. KSA 14, 354).
59.
Eine Fassung dieses Abschnitts findet sich auch in KGW IX 5, W I 8, 211 f.
78, 2-16 Wer tief in die Welt gesehen hat, erräth wohl, welche Weisheit darin
liegt, dass die Menschen oberflächlich sind. Es ist ihr erhaltender Instinkt, der
sie lehrt, flüchtig, leicht und falsch zu sein. Man findet hier und da eine leiden-
schaftliche und übertreibende Anbetung der „reinen Formen“, bei Philosophen
wie bei Künstlern: möge Niemand zweifeln, dass wer dergestalt den Cultus der
Oberfläche nöthig hat, irgend wann einmal einen unglückseligen Griff unter
sie gethan hat. Vielleicht giebt es sogar hinsichtlich dieser verbrannten Kinder,
der geborenen Künstler, welche den Genuss des Lebens nur noch in der Absicht
finden, sein Bild zu fälschen (gleichsam in einer langwierigen Rache am Le-
ben —), auch noch eine Ordnung des Ranges: man könnte den Grad, in dem
ihnen das Leben verleidet ist, daraus abnehmen, bis wie weit sie sein Bild ver-
fälscht, verdünnt, verjenseitigt, vergöttlicht zu sehn wünschen] In GT war die
„Oberfläche“ der Ort des Apollinischen als Sicherung gegen die Abgründigkeit
des Dionysischen (vgl. zum Metapherngebrauch z. B. GT 9, KSA 1, 64, 28 u. NL
1871, KSA 7, 11[1], 352, 24-26); bald aber bekamen Oberfläche und Oberfläch-
lichkeit bei N. einen negativen Beiklang, so etwa mit der Behandlung der an-
geblich dekadenten griechischen Spätkultur (vgl. GT 18, KSA 1, 114, 30-33).
„Oberflächlichkeit“ zu geißeln, gehört zum kulturkritischen Standardreper-
toire, bis weit ins 20. Jahrhundert hinein übrigens mit einer chauvinistischen
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften