Stellenkommentar Viertes Hauptstück, KSA 5, S. 83 383
für die Leser von vornherein klar als Produkte einer früheren Denkphase aus-
gewiesen worden. Zum anderen aber sollten diese Texte die überzeitliche
Macht von N.s Denken zelebrieren, hätten sie doch gerade dessen Resistenz
gegenüber dem Veralten zeigen sollen. Durch die in der definitiven Fassung
allerdings erfolgte Verschiebung dieses Textes auf eine andere Position muss-
ten die Leser über den Umstand im Unklaren bleiben, mit den Sentenzen des
Vierten Hauptstücks bereits erheblich früher entstandene Texte geboten zu be-
kommen.
Von philosophischen Interpreten sind ambitionierte Versuche unternom-
men worden, eine innere argumentative Struktur des Vierten Hauptstückes
aufzuweisen. Leo Strauss legt besonderen Wert auf das Zusammenspiel von
(Selbst-)Erkenntnis und Theologie (Strauss 1983,181 f.). Laurence Lampert folgt
ihm darin und sieht den Beginn der „Sprüche und Zwischenspiele“ von der
Frage nach dem Erkennenden bestimmt, die sich dann im Laufe des Textes
allmählich in die Frage nach dem Verhältnis von Erkennendem und den Göt-
tern verwandelt, um schließlich im „Frommen der Erkenntniss“ den Kulminati-
onspunkt zu finden (Lampert 2001, 139-145). Acampora/Ansell-Pearson 2011,
98-109 gehen in ihrer Deutung des Vierten Hauptstücks vom Titel aus, den
sie weitläufig auslegen: JGB 63 bis 185 gäben einen Überblick über JGB als
Gesamtheit. Es komme darin die Frage nach dem Wert der Wahrheit ebenso
zum Tragen wie das Problem der philosophischen Vorurteile und ihrer Über-
windung sowie schließlich „analyses of current and possible future spirituali-
ty“ (JGB 98). Born 2014b bestreitet demgegenüber eine innere Ablauflogik im
Gedankengang des Vierten Hauptstückes, was gerade dazu diene, die Leser zu
irritieren und sie zu neuen Einsichten, zur Kritik ihrer Selbstpositionierungen
herauszufordern.
Es ließe sich auch dafür argumentieren, dass das Apodiktisch-Sentenzen-
hafte dieser Kürzesttexte eher ex negativo auf eine andere Form des Philoso-
phierens verweise - auf eine Philosophie der Zukunft, die alle Festschreibung
verweigert. Damit böte das Vierte Hauptstück einen kondensierten Abriss des
Gesamtwerkes JGB als „Vorspiel einer Philosophie der Zukunft“. In seiner bun-
ten Mischung erscheint dieses Hauptstück als corpus permixtum, eine mit
Früchten aller Art gefüllte satura lanx - Poikilographie oder Buntschriftstelle-
rei in philosophischer Absicht. Die „Sprüche und Zwischenspiele“ geben ein
extremes Beispiel dafür, wie N. durch Verkürzung und Hermetisierung seine
Leser dazu zwingt, sich selbst ihren Teil zu denken, eben sich selbst hinzuzu-
setzen und sich damit auch zu verändern: Die Gedanken werden nur leicht,
wie mit „chinesischem Pinsel“ (JGB 296, KSA 5, 239, 27) aufgetupft, aber nicht
ausgeführt, geschweige denn hergeleitet oder begründet. Indem das Vierte
Hauptstück auf eine organische Abfolge, eine Ordnung oder eine Hierarchie
für die Leser von vornherein klar als Produkte einer früheren Denkphase aus-
gewiesen worden. Zum anderen aber sollten diese Texte die überzeitliche
Macht von N.s Denken zelebrieren, hätten sie doch gerade dessen Resistenz
gegenüber dem Veralten zeigen sollen. Durch die in der definitiven Fassung
allerdings erfolgte Verschiebung dieses Textes auf eine andere Position muss-
ten die Leser über den Umstand im Unklaren bleiben, mit den Sentenzen des
Vierten Hauptstücks bereits erheblich früher entstandene Texte geboten zu be-
kommen.
Von philosophischen Interpreten sind ambitionierte Versuche unternom-
men worden, eine innere argumentative Struktur des Vierten Hauptstückes
aufzuweisen. Leo Strauss legt besonderen Wert auf das Zusammenspiel von
(Selbst-)Erkenntnis und Theologie (Strauss 1983,181 f.). Laurence Lampert folgt
ihm darin und sieht den Beginn der „Sprüche und Zwischenspiele“ von der
Frage nach dem Erkennenden bestimmt, die sich dann im Laufe des Textes
allmählich in die Frage nach dem Verhältnis von Erkennendem und den Göt-
tern verwandelt, um schließlich im „Frommen der Erkenntniss“ den Kulminati-
onspunkt zu finden (Lampert 2001, 139-145). Acampora/Ansell-Pearson 2011,
98-109 gehen in ihrer Deutung des Vierten Hauptstücks vom Titel aus, den
sie weitläufig auslegen: JGB 63 bis 185 gäben einen Überblick über JGB als
Gesamtheit. Es komme darin die Frage nach dem Wert der Wahrheit ebenso
zum Tragen wie das Problem der philosophischen Vorurteile und ihrer Über-
windung sowie schließlich „analyses of current and possible future spirituali-
ty“ (JGB 98). Born 2014b bestreitet demgegenüber eine innere Ablauflogik im
Gedankengang des Vierten Hauptstückes, was gerade dazu diene, die Leser zu
irritieren und sie zu neuen Einsichten, zur Kritik ihrer Selbstpositionierungen
herauszufordern.
Es ließe sich auch dafür argumentieren, dass das Apodiktisch-Sentenzen-
hafte dieser Kürzesttexte eher ex negativo auf eine andere Form des Philoso-
phierens verweise - auf eine Philosophie der Zukunft, die alle Festschreibung
verweigert. Damit böte das Vierte Hauptstück einen kondensierten Abriss des
Gesamtwerkes JGB als „Vorspiel einer Philosophie der Zukunft“. In seiner bun-
ten Mischung erscheint dieses Hauptstück als corpus permixtum, eine mit
Früchten aller Art gefüllte satura lanx - Poikilographie oder Buntschriftstelle-
rei in philosophischer Absicht. Die „Sprüche und Zwischenspiele“ geben ein
extremes Beispiel dafür, wie N. durch Verkürzung und Hermetisierung seine
Leser dazu zwingt, sich selbst ihren Teil zu denken, eben sich selbst hinzuzu-
setzen und sich damit auch zu verändern: Die Gedanken werden nur leicht,
wie mit „chinesischem Pinsel“ (JGB 296, KSA 5, 239, 27) aufgetupft, aber nicht
ausgeführt, geschweige denn hergeleitet oder begründet. Indem das Vierte
Hauptstück auf eine organische Abfolge, eine Ordnung oder eine Hierarchie