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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0404
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384 Jenseits von Gut und Böse

der Gedanken verzichtet, setzt es auf die Isolation der Sentenzen. Dadurch wer-
den Leerräume - auch zwischen den einzelnen Sentenzen („Zwischenspiele“) -
eröffnet, die die Leser auf die eine oder andere Weise füllen müssen. Die Leser
haben selbst Ordnung zu schaffen, ihre Gedanken und Werthierarchien zu
problematisieren und neu zu arrangieren. Die „Sprüche und Zwischenspiele“
nötigen dazu, zu werten; sie provozieren zur eigenen Umwertung der Werte.
Formal verwandt sind die „Sprüche und Zwischenspiele“ mit La Rochefou-
caulds Reflexions, sentences et maximes morales. (Kruse 2003, 258 betont, dass
N. La Rochefoucauld erst 1876/77 eingehend studiert habe, also nicht gleichzei-
tig zu der früheren, intensiven Beschäftigung mit Schopenhauer, der sich für
La Rochefoucauld ebenfalls erwärmt hatte. Zu N. und La Rochefoucauld Abbey
2015.) Auf das Vierte Hauptstück direkt übertragen lässt sich eine Bemerkung
in La Rochefoucaulds „Avis au lecteur de l’edition 1666“: „Pour ce qui est de
l’ordre de ces Reflexions, vous n’aurez pas de peine ä juger, mon eher Lecteur,
que comme elles sont toutes sur des matieres differentes, il etoit difficile d’y
en observer. Et bien qu’il y en ait plusieurs sur un meme sujet, on n’a pas
cru les devoir mettre de suite, de crainte d’ennuyer le lecteur“ (La Rochefou-
cauld o. J., 103. „Was die Ordnung dieser Reflexionen angeht, werden Sie,
mein lieber Leser, zu urteilen keine Mühe haben, dass, weil sie alle auf
verschiedene Stoffe zielen, es schwer war, darin Ordnung zu beobachten.
Und obwohl es viele über ein gleiches Thema gibt, haben wir nicht geglaubt,
sie hintereinander reihen zu sollen, aus Furcht, den Leser zu langweilen“).
,Nicht langweilen!4 ist eine Devise, die auch dem Vierten Hauptstück hätte
vorangestellt werden können.
85, 2 Sprüche und Zwischenspiele.] In N.s Frühwerk bezog sich „Spruch“ häu-
fig auf exemplarische Sätze, die von griechischen Orakeln und Weisen überlie-
fert wurden (zu N.s Auffassung und lyrischer Gestaltung des Sinn-Spruchs vgl.
Sebastian Kaufmanns Ausführungen zu N.s Lyriktheorie in NK 3/1, S. 467-479),
während er unter dem Einfluss Wagners (vgl. Wagner 1907, 9, 138 f.) den neu-
zeitlichen Sentenzen zunächst noch reserviert gegenüberstand: „die wirkliche
Leidenschaft des Lebens spricht nicht in Sentenzen und die dichterische er-
weckt leicht Misstrauen gegen ihre Ehrlichkeit“ (UB IV WB 9, KSA 1, 488, 21-
23). Die Abkehr von Wagner wurde 1879 provozierend markiert mit dem die
Sentenzenform direkt evozierenden Haupttitel eines Buches, nämlich des „An-
hangs“ zu MA: Vermischte Meinungen und Sprüche, in den sich auch ein „Lob
der Sentenz“ (MA IIVM 168, KSA 2, 446, 6) findet. Noch im Spätwerk attes-
tierte N. sich selbst Meisterschaft bei der Schaffung von Sentenzen und Apho-
rismen (vgl. GD Streifzüge eines Unzeitgemässen, KSA 6, 153, 11-15 u. JGB 235,
KSA 5,173). Das Wort „Spruch“ wurde zunächst besonders im juristischen Sinn
für die Entscheidung eines Gerichts, den Richterspruch verwendet (vgl. Grimm
 
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