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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0408
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388 Jenseits von Gut und Böse

hen[s] des Lehrer-Ideals“ auch MA IIVM180, KSA 2, 458). Zu parallelen Überle-
gungen bei Schopenhauer vgl. NK 85, 7-9.
64.
85, 7-9 „Die Erkenntniss um ihrer selbst willen“ — das ist der letzte Fallstrick,
den die Moral legt: damit verwickelt man sich noch einmal völlig in sie.] Fast
wortwörtlich findet sich diese Sentenz bereits in NL 1882, KSA 10, 3[1]133, 69,
8-10 (dort „selber“ statt „selbst“, „vollständig“ statt „völlig“). NL 1884, KSA 11,
25[216], 70, 22f. glossiert dazu: „Tartüfferie der Erkennenden vor sich selber:
,Erkenntniß um ihrer selber willen!“4 Die Wendung „Erkenntnis(s) um ihrer
selbst/selber willen“ war im 19. Jahrhundert noch nicht sehr verbreitet. 1874
hat sich ihrer Emil Du Bois-Reymond in einer Berliner Rede bedient, derzufolge
die wissenschaftliche Akademie „zum Fortbau der Erkenntniss um ihrer selber
willen“ da sei (Du Bois-Reymond 1887, 2, 537). Während nicht belegt ist, dass N.
Du Bois-Reymonds Rede gelesen hat, war ihm nachweislich John Stuart Mills
Auguste Comte und der Positivismus geläufig. Darin markierte er auch Folgen-
des (seine Unterstreichungen): „Die Menschheit kann, wie sogar Hr. Comte zu-
gibt, wohl zufrieden sein, daß in jenen frühen Zeiten [sc. in der Antike] die
Erkenntniß um ihrer selbst willen erstrebt wurde.“ (Mill 1869-1886, 9, 122) In
unmittelbarem inhaltlichem Zusammenhang mit den nun zu Beginn des Vier-
ten Hauptstücks präsentierten Sentenzen steht eine Nachlass-Aufzeichnung
Schopenhauers von 1821: „Unstreitig befähigt den geistreichen Menschen sein
rein intellektuelles Leben vor allen Anderen zum Lehren, weil er keinen ande-
ren Zweck als die Erkenntniss um ihrer selbst willen hat. Weil er aus eigenem
Triebe stets denkt und lernt, wird er accidentaliter zur Belehrung fähig: die
conditio sine qua non ist also, dass sein Denken und Lernen keinen Zweck
äusser sich hat, auch nicht den des Lehrens. Gewöhnliche Menschen hingegen,
die den Vorsatz gefasst haben, Lehrer zu werden, vereiteln ihn schon dadurch,
dass bei allem ihrem Lernen und erzwungenen Denken der Zweck des Lehrens
ihnen vorschwebt und sie verhindert, tief einzugehen in die Gegenstände der
Erkenntniss. Der vorgesetzte Zweck des Lehrens ist ihnen gleichsam das Seil,
an dem sie gebunden sind und welches sie hindert, den Gegenständen der
Forschung frei nachzugehn.“ (Schopenhauer 1863, 424 f., auch abgedruckt in
Frauenstädt 1871, 2, 51) JGB 63 und 64 gehen von derselben vermeintlichen
Alternative aus: Entweder soll Erkenntnis um ihrer selbst willen angestrebt
werden - so das klassische Verständnis von Oempia seit Aristoteles -, wobei
das Lehrinteresse akzidentell wird. Oder Erkenntnis soll bloß um der Lehre
willen gewonnen werden, wobei umgekehrt die Erkenntnis akzidentell wird.
Während Schopenhauer ganz im Stil der klassischen Metaphysik der ersten
 
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