Metadaten

Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0409
Lizenz: Freier Zugang - alle Rechte vorbehalten
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Stellenkommentar JGB 65, KSA 5, S. 85 389

Ansicht unbedingt den Vorzug gibt und die Erkennenden um der Erkenntnis
selbst willen sogar noch zu den besseren Lehrern erklärt, weist N. die vermeint-
liche Alternative insgesamt zurück: Weder ein instrumentelles Verständnis von
Erkenntnis um der Lehre willen noch ein theoretisches Verständnis von Er-
kenntnis um ihrer selbst willen scheint angemessen. Wer die „Erkenntnis um
ihrer selbst willen“ anstrebt, bleibt bei der alteuropäischen Moral, insofern
eben die selbstzweckhafte Erkenntnis in der okzidentalen Tradition als höchs-
ter Wert gilt. JGB 65 schlägt sodann eine Motivationsgrundlage des Erkenntnis-
strebens jenseits von Lehrabsicht und Selbstzweck vor. Der Dreischritt von JGB
63 bis 65 zeigt exemplarisch die Techniken der ,Verjenseitigung‘ traditioneller
Haltungen und Werte in JGB auf.
Der „Fallstrick“ kommt abgesehen von JGB 64 in N.s Werken nur noch in
MA 137 (KSA 2,60,19) und MA 1142 (KSA 2,138,21) sowie an ein paar Nachlassstel-
len vor. Ein Fallstrick, ein OKavöaAov wird nach Psalm 69, 22 dem Feinde aus-
gelegt (Passow 1841-1857, 2/2, 1436) - von dort leitet sich der neuzeitliche Be-
griff des Skandals her, den N. besonders in adjektivischer Form häufig benutzt
hat, selbst Freund einer skandalösen Philosophie (vgl. Sommer 2013f).
65.
85,11 f. Der Reiz der Erkenntniss wäre gering, wenn nicht auf dem Wege zu ihr
so viel Scham zu überwinden wäre.] Wortwörtlich findet sich diese Sentenz be-
reits in NL 1882, KSA 10, 3[1]132, 69, 6f., steht dort also unmittelbar vor der
Vorlage zu JGB 64. Wie bei JGB 63 (vgl. NK 85, 4 f.) gibt es auch zu JGB 65 eine
spätere, leicht abweichende Variante in NL 1884/85, KSA 11, 31[52], 385, 16 f.
sowie in NL 1884/85, KSA 11, 32[8]36, 403, 25 f. Für die Druckfassung griff N.
aber wiederum auf die früheste Version zurück. In der Aufzeichnung in NL
1884/85, KSA 11, 32[8], 404,17 wird unter dem Titel „Scham überwinden“ expli-
zit der Satz 36 („wie wenig reizte die Erkenntniß, wenn nicht auf dem Wege
zu ihr so viel Scham zu überwinden wäre“ - KSA 11, 403, 25 f.) mit Satz 15
zusammengestellt, der lautet: „die Allzuschamhaften, die man noch zu dem
zwingen und nothzüchtigen muß, was sie am liebsten möchten“ (KSA 11,
32[8]15, 402, 12f., vgl. auch NL 1888, KSA 13, 20[48], 557f.). Mit der dort in
Satz 16 nachgeschobenen Erläuterung „erreglich an Hirn- und Schamtheilen“
(KSA 11, 32[8]16, 402, 14) ist die sexuelle Sphäre mit der Sphäre der Scham
noch stärker gekoppelt als es das Vokabular der Notzüchtigung ohnehin schon
nahelegt. Erkenntnis und Sexualität sind bekanntlich schon in der Genesis mit-
einander liiert: Der als Erkennen apostrophierte Beischlaf findet erst statt,
nachdem das Urelternpaar schon aus dem Paradies vertrieben worden ist
(„Und Adam erkannte sein Weib Heva“ - Genesis 4, 1 - Die Bibel: Altes Testa-
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften