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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0415
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Stellenkommentar JGB 71, KSA 5, S. 86 395

tausend verschiedenen Anlässen. (3) Ich habe einen Charakter, denn ich habe
mein tragisches Erlebniß Ommer wieder erlebt, bei tausend verschiedenen An-
lässen.}“
Das Wort xapm<Trip bedeutete ursprünglich das Aufgeprägte, Eingeritzte
und wurde im philosophischen Diskurs trotz Theophrasts Charakteren lange
als Synonym für signum, Zeichen, Kennzeichen benutzt. Erst Ende des 17. Jahr-
hunderts, namentlich mit Jean de La Bruyeres Caracteres de Theophraste, tra-
duits du grec, avec les Caracteres ou les moeurs de ce siede (1688) und mit
Christian Thomasius, setzte sich eine Wort Verwendung durch, die „Charakter“
als „Grundbeschaffenheit eines Menschen“ verstand (Seidel 1971, 986-987).
Die Überlegung in JGB 70 konterkariert das landläufige, empiristische Ver-
ständnis von Charakter, wonach dieser durch Erlebnisse geprägt werde. Viel-
mehr wird der Charakter hier als etwas Vorgegebenes aufgefasst, das erst be-
stimmte Erlebnisse möglich macht. Schopenhauer hatte, in einer Adaption von
Kants Unterscheidung zwischen intelligiblem und empirischem Charakter, wie-
derholt die „Unveränderlichkeit des Charakters“ (Schopenhauer 1873-1874, 4/
2, 61) postuliert - eine Vorstellung, von der sich der frühe N. fasziniert zeigte
(vgl. N. an Malwida von Meysenbug, 02. 01.1875, KSB 5/KGB II/5, Nr. 414, S. 7,
Z. 46-50), um sich später davon ironisch abzugrenzen (N. an Heinrich Köselitz,
18. 07.1880, KSB 6/KGB III/l, Nr. 40, S. 30, Z. 70-72). In MA I 41, KSA 2, 65
hielt er die Vorstellung vom unveränderlichen Charakter des Menschen für eine
perspektivische Täuschung, da „während der kurzen Lebensdauer eines Men-
schen die einwirkenden Motive gewöhnlich nicht tief genug ritzen können, um
die aufgeprägten Schriftzüge vieler Jahrtausende zu zerstören. Dächte man
sich aber einen Menschen von achtzigtausend Jahren, so hätte man an ihm
sogar einen absolut veränderlichen Charakter“ (KSA 2, 65, 4-10; vgl. auch
M 560, KSA 3, 326 u. dazu Brusotti 1997, 156). Mit JGB 70 scheint die Kritik an
Schopenhauers Vorgabe wieder zurückgenommen zu werden, aber doch wohl
hauptsächlich um des provokativen Effektes willen. Der gestrichenen Vorarbeit
in KGW VII 4/1, 84 f. zufolge ist mit dem Menschsein keineswegs zwangsläufig
ein Charakter gegeben: Erst das „tragische Erlebniß“ beweist dem sprechenden
Ich, dass es einen Charakter hat. Charakter wäre dann etwas Auszeichnendes,
Außeralltägliches, Vornehmes. Thematisch verwandt mit JGB 70 ist JGB 89, vgl.
NK89, 18 f.
71.
86,15-17 Der Weise als Astronom. — So lange du noch die Sterne fühlst als ein
„Über-dir“, fehlt dir noch der Blick des Erkennenden.] Die ursprüngliche Fas-
sung in NL 1882, KSA 10, 3[1]256, 83, 20-22 ist erläuterungsfreudiger: „Der Wei-
 
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