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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0431
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Stellenkommentar JGB 94, KSA 5, S. 90 411

Vorbereitet ist diese Beobachtung der in der Leutseligkeit enthaltenen
Menschenverachtung in Baltasar Graciäns Oräculo manual y arte de prudencia,
das N. in der Übersetzung Schopenhauers kannte und besaß: „Das Göttliche
gebietet Ehrfurcht. Jede Leutseligkeit bahnt den Weg zur Geringschätzung. Es
ist mit den menschlichen Dingen so, daß, je mehr man sie besitzt und hält,
desto weniger hält man von ihnen [...]. Die große Leutseligkeit ist der Gemein-
heit verwandt“ (Gracian 1877, 114).
94.
90,12 f. Reife des Mannes: das heisst den Ernst wiedergefunden haben, den man
als Kind hatte, beim Spiel.] In NL 1882, KSA 10, 3[1]313, 91, 1 f. erscheint der
Gedanke in fast identischem Wortlaut mit nur einer Abweichung: „beim Spie-
len“ statt „beim Spiel“. Vorbereitende Aufzeichnungen zu 3[1]313 teilt KGW VII
4/1, 91 mit: „(1) Man verlernt das Kind und glaubt damit, das Spiel verlernt zu
haben. (2) Das Kind von sich abthun: das heißt den Meisten, das Spiel von sich
abthun. In Wahrheit hat man raber damit'' den rseinen ernstesten'' Ernst ver-
lernt von sich abgethan. Und wer ihn irgendwann wieder lernt findet, hat auch
das Kind und das Spiel wiedergefunden. (3) Man war nie so ernst als damals
(4) Niemand ist so ernst (a) als ein Kind (b) wie er als Kind war, rund damals-1
welches spielt. Und ,so ihr nicht werdet, wie die Kinder4 —“. Letzteres ist ein
Zitat nach Matthäus 18, 3, das in N.s Bibel lautet: „es sey denn, daß ihr euch
umkehret, und werdet wie die Kinder, so werdet ihr nicht in das Himmelreich
kommen“ (Die Bibel: Neues Testament 1818, 24). Im Hintergrund von N.s Über-
legungen zur anthropologischen Fundamentalität des Spiels stehen neben
frühromantischen Ansätzen auch Friedrich Schillers Briefe Ueber die ästheti-
sche Erziehung des Menschen (Brief 15: „der Mensch spielt nur, wo er in voller
Bedeutung des Worts Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo
er spielt“ - Schiller 1844, 10, 201). NL 1874, KSA 7, 34[31], 801, 28- 802,
2 erwog ein ,,[n]eues Ideal des theoretischen Menschen“, der alle weltlichen
Geschäfte nur noch spielend betreibt: „Dies die höchste menschliche Möglich-
keit - alles in Spiel aufzulösen, hinter dem der Ernst steht.“ Dass das Spielen
„die eigentliche Arbeit des Kindes“ sei „und ihm ebenso Bedürfniß, wie dem
reifen Alter schaffende Thätigkeit“ (NL 1875, KSA 8, 9[1], 148, 23 f.), hat sich N.
in seinem großen Exzerpt aus Eugen Dührings Werth des Lebens notiert (Düh-
ring 1865, 61), und weiter: „Spiel ist die ernsteste Angelegenheit für ein Kind,
nichts Unterhaltendes-Überflüssiges, wie Erwachsene es häufig beurtheilen.“
(KSA 8,148, 26-28 nach Dühring 1865, 61). JGB 94 erhebt auch für den Erwach-
senen in chiastischer Verschränkung spielerischen Ernst und ernstes Spiel zur
erstrebenswerten Verwirklichungsform.
 
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