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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0441
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Stellenkommentar JGB 107, KSA 5, S. 92 421

selbst“ (Schopenhauer 1873-1874, 2, 304) darstellt: „so ist hieraus auch er-
klärlich, daß sie auf den Willen, d. i. die Gefühle, Leidenschaften und Affekte
des Hörers, unmittelbar einwirkt, so daß sie dieselben schnell erhöht, oder
auch umstimmt“ (ebd., 3, 512. N. griff dies z. B. in GT 16, KSA 1, 106 auf, vgl.
NK KSA 1, 43, 31-44, 3). Nach JGB 106 hingegen bedienen sich die freigesetzten
„Affekte“ bzw. „Leidenschaften“ der Musik quasi nur als Medium. Bemerkens-
wert ist übrigens, dass Georg Simmel in seinem „Vortragszyklus“ Schopenhauer
und Nietzsche (1907) bei der Beschreibung von Schopenhauers Musikphiloso-
phie ausgerechnet N.s Eingangsformulierung in JGB 106 („Vermöge der Musik“)
benutzt, die sich so bei Schopenhauer nicht findet: „Vermöge der Musik aber
fühlen wir uns ganz unmittelbar dieser völligen Allgemeinheit eine Stufe näher
gerückt“ (Simmel 2011, 153).
107.
92,10-12 Wenn der Entschluss einmal gefasst ist, das Ohr auch für den besten
Gegengrund zu schliessen: Zeichen des starken Charakters. Also ein gelegentli-
cher Wille zur Dummheit.] In der Vorüberlegung von NL 1882, KSA 10, 3[l]37O,
98, 7-10, die im Übrigen der ersten Fassung von JGB 106 unmittelbar voraus-
geht, war die Dummheit noch zum Wahnsinn potenziert: „Die Probe des star-
ken Charakters besteht darin, daß er, wenn der Entschluß einmal gefaßt ist,
auch den besten Vernunft-Gründen dagegen unzugänglich bleibt: also ein peri-
odischer Wahnsinn.“ (Das „Zeichen des starken Charakters“ beleuchtet schon
NL 1882, KSA 10, 3[1](314), 91,10 f., ohne dort auf dessen periodische Taubheit
einzugehen.) Zum Begriff des Charakters siehe NK 86, 12-13.
Was JGB 107 sowie 3[l]37O zum „starken Charakter“ andeuten, schließt an
die berüchtigte Auseinandersetzung Goethes mit Newton in der Geschichte der
Farbenlehre an. N. hat explizit in UB II HL 8, KSA 1, 303, 1-8 daraus zitiert
(dazu Venturelli 2003, 51 f.). Goethe hatte im Blick auf Newton zwischen einem
wahrhaft „großen“ und einem lediglich „starken Charakter“ zu unterscheiden
gesucht: „Einen starken Charakter nennt man, wenn er sich allen äußerlichen
Hindernissen mächtig entgegensetzt und seine Eigenthümlichkeit, selbst mit
Gefahr seine Persönlichkeit zu verlieren, durchzusetzen sucht.“ (Goethe 1853-
1858, 39, 293) Newton erscheint dabei als typischer Repräsentant eines bloß
starken Charakters, der starr bei einmal eingenommenen Positionen bleibt.
„Aengstlich aber ist es anzusehen, wenn ein starker Charakter, um sich selbst
getreu zu bleiben, treulos gegen die Welt wird, und um innerlich wahr zu seyn,
das Wirkliche für eine Lüge erklärt und sich dabei ganz gleichgültig erzeigt,
ob man ihn für halsstarrig, verstockt, eigensinnig, oder für lächerlich halte.
Dessenungeachtet bleibt der Charakter immer Charakter, er mag das Rechte
 
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