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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0445
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Stellenkommentar JGB 111, KSA 5, S. 92-93 425

französischen Literatur der Romantik und der decadence auch als ironische
Empfehlung an die Adresse eines Strafverteidigers lesen lassen, es einmal mit
einer Ästhetisierung des Verbrechens zu versuchen, weil eine solche ästheti-
sche Betrachtungsweise und außermoralische Nivellierung dem Publikumsge-
schmack entsprechen mag. Vielleicht hat Julien Sorels Verteidiger in Stendhals
Roman Le Rouge et le Noir (Kapitel 74) N.s Ratschlag vorweggenommen, um
so seinen schönen jungen Mandanten vor der Guillotine zu bewahren, hätte
dieser nicht in einem Anfall von Ehrlichkeit gegenüber den Geschworenen sei-
ne Tat als Folge sozialer Gegensätze erscheinen lassen (Stendhal 1884, 3, 319).
In der ästhetischen Debatte des späten 18. und des 19. Jahrhunderts spielt
das von Lessing in seiner kunsttheoretischen Abhandlung Laokoon (Kapitel
XXIII und XXIV) paradigmatisch behandelte, in die Diskussion über das Erha-
bene hineinspielende Problem, wie das Hässliche oder Schreckliche in den auf
Schönheit abzweckenden Künsten Dichtung und Malerei darzustellen sei, eine
nicht unwesentliche Rolle. Ein Lessing-Herausgeber zu N.s Zeit, Hugo Blüm-
ner, kommentiert Laokoon XXIV mit der rhetorischen Frage: „In der That: kann
es nicht auch ein schönes Schreckliches geben?“ (Lessing 1876, 275) Die Äs-
thetik des Verbrechens hat N. - so ungern er dies gegenüber seinem eigenen
Lesepublikum auch eingestand - wohl nicht zuletzt bei Schiller fasziniert, vgl.
Politycki 1989, 355-363.
Für Max Horkheimer und Theodor W. Adorno ist in der Dialektik der Aufklä-
rung JGB 110 ein Beleg für N.s Nähe zur Juliette von Marquis de Sade, mit dem
N. „das geheime“, menschenverachtende „Credo aller Herrscherklassen [...] der
Gegenwart vorhielt“ (Horkheimer 1987, 5, 123).

111.
93, 2 f. Unsre Eitelkeit ist gerade dann am schwersten zu verletzen, wenn eben
unser Stolz verletzt wurde.] NL 1882, KSA 10, 3[1]395, 101, 12-14 schickt noch
eine Überlegung voraus: „Es giebt einen Übermuth der Güte, welcher sich wie
Bosheit ausnimmt. Unsere Eitelkeit ist gerade dann am schwersten zu verlet-
zen, wenn eben unser Stolz verletzt worden ist.“ Diesen ersten Satz separierte
N. dann als JGB 184, KSA 5, 104, 10 f. Die Vorstufe von JGB 111 in KSA 10, 101,
13 f. lautete ursprünglich: „Man Wir sind gerade dann am fernsten von Eitel-
keit, wenn eben unser Stolz verletzt wurde“ (KGW VII 4/1, 100). In Za II Von
der Menschen-Klugheit, KSA 4, 184, 14-16 wird Zarathustra noch expliziter:
„Ist nicht verletzte Eitelkeit die Mutter aller Trauerspiele? Wo aber Stolz ver-
letzt wird, da wächst wohl etwas Besseres noch, als Stolz ist.“ (Zur Deutung
dieser Stelle siehe z. B. Naumann 1899-1901, 2, 162 f.).
 
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