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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0448
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428 Jenseits von Gut und Böse

et ,improbe‘ dicet; / pugnando vinci se tarnen illa volet“. „Vielleicht wird sie
zuerst kämpfen und »Ruchloser! ‘ sagen. / Aber kämpfend besiegt zu werden ist
trotzdem das, was jene will.“). N. modifiziert dieses sexistisch-männliche Bild
vom angeblichen weiblichen Begehren hier immerhin so, dass die Verlegenheit
explizit als aktiver Verführungstrick erscheint (vgl. aber NK 85, 11 f.). Die Vor-
stufe in 3[1]382 klingt nach einem hausbackenen Ratschlag aus der Praxis der
Kupplerin, während die Druckfassung JGB 113 durch das Ersetzen des Bezau-
berns durch das Einnehmen die erotische Semantik dämpft und durchaus auch
in einem Handbuch der politischen Taktik ihren Platz finden könnte, also gar
nicht zwangsläufig als ein speziell an (junge) Frauen adressierter Rat gelesen
werden muss.

114.
93, 12-14 Die ungeheure Erwartung in Betreff der Geschlechtsliebe, und die
Scham in dieser Erwartung, verdirbt den Frauen von vornherein alle Perspekti-
ven.] Eine erste Fassung des Gedankens findet sich in den Tautenburger Auf-
zeichnungen für Lou von Salome, NL 1882, KSA 10, 1[87], 32, 4f.: „Die unge-
heure Erwartung in Betreff der Geschlechtsliebe verdirbt den Frauen das Auge
für alle weiteren Perspektiven.“ Fortan wird er in mehreren Aufzeichnungen
mit geringfügigen Variationen wiederholt (NL 1882, KSA 10, l[108]4, 37, 11 f. =
N. an Lou von Salome, 08./24. 08.1882, KSB 6/KGB III/l, Nr. 287, S. 243, Z. 13 f.;
NL 1882/83, KSA 10, 5[1]62, 194, 11 f.; NL 1883, KSA 10, 12[1]194, 399, 20f.: „Die
ungeheure Erwartung in Betreff der Liebe verdirbt den Frauen den Blick für
alle anderen — Fernen.“) Um die Scham wird der Gedanke erst in JGB 114 er-
weitert, was diese Sentenz wiederum motivisch mit der unmittelbar vorange-
henden verbindet.
Der „oft gewaltige[.] Unterschied zwischen Erwartung und Erfüllung“ ge-
hört, wie Eugen Dühring anmerkte, zu den ältesten Topoi in der Kritik der
Geschlechtsliebe, was er anhand von Schopenhauer exemplifizierte (Dühring
1865, 109). Den Begriff der Erwartung benutzte Schopenhauer im Kapitel 44
des zweiten Bandes der Welt als Wille und Vorstellung (Ergänzungen zum vier-
ten Buch), betitelt „Metaphysik der Geschlechtsliebe“ zwar nicht, ließ aber kei-
nen Zweifel daran aufkommen, dass sowohl das ungestillte wie das gestillte
Streben nach Geschlechtsliebe am Ende die darin gesetzten Erwartungen nicht
erfülle, sondern meist geradewegs ins Unglück stürze. Während Schopenhauer
dieses Phänomen an die von ihm postulierte ontologische Struktur der Wirk-
lichkeit zurückband, nämlich an den mit Leiden assoziierten Willensgrund der
Welt, in diesem Fall speziell an die Kollision des individuellen Interesses mit
dem Interesse der Gattung, das die Interessen der Individuen bedenkenlos op-
 
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