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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0452
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432 Jenseits von Gut und Böse

schichtliche Folgerungen zu ziehen: „Der Schmuz ist ein Gegenstand des Ge-
sichts; er kann aber dem Gesicht nicht unmittelbar Widerwillen erregen, son-
dern bringt unsere Einbildung auf den Geruch und Geschmack. Der Schmuz
erregt Ekel, nicht aber durch unsere Phantasie. Man findet auch, daß Ekel vor
dem Schmuze nur bei gebildeten Nationen ist; die Nation, die nicht gebildet
ist, hat keine Bedenklichkeit beim Schmuze. Die Reinlichkeit beweiset die
größte Bildung des Menschen, denn sie ist ihm am allerwenigsten natürlich,
und verursacht ihm viel Mühe und Beschwerlichkeit. [...] Aber doch ist die
Reinlichkeit eine so sehr zu empfehlende Sache, weil dadurch viel Nachtheil
für die Gesundheit verhütet wird, und eine Zierlichkeit dadurch entsteht, die
ins Moralische einfließt.“ (Kant 1831, 74 = AA XXV/2, 917 f., siehe dazu Men-
ninghaus 1999, 168) Die lähmende Wirkung des Ekels vor dem Schmutz, die
JGB 119 beschreibt, soll wohl im Unterschied zu Kant im übertragenen Sinne
genommen werden: Der sich vor christlich-moralischen Verlogenheiten ekeln-
de Redliche findet mitunter nicht die Kraft, sich des Gegenstandes seines Ekels
zu entledigen. Von „Schmutz“ sprechen N.s Texte häufig und ab den achtziger
Jahren in einem ebenso vagen wie umfassend-existenziellen Sinn. So konsta-
tiert Zarathustra: „Wahrlich, ein schmutziger Strom ist der Mensch. Man muss
schon ein Meer sein, um einen schmutzigen Strom aufnehmen zu können,
ohne unrein zu werden.“ (Za Vorrede 3, KSA 4, 15, 19-21) In JGB 271 ist vom
„Schmutz des Menschlichen, Allzumenschlichen“ (KSA 5, 226, 32) die Rede
und in NL 1886/87, KSA 12, 7[7O], 321, 18 f. vom „Dampf und Schmutz der
menschlichen Niederungen“. Angesprochen scheint somit der Ekel vor den
Niederungen des menschlichen Daseins.
Heidegger zitiert JGB 119 in seinen Schwarzen Heften 1942-1948 (Heidegger
2015, 148).
120.
94, 9 f. Die Sinnlichkeit übereilt oft das Wachsthum der Liebe, so dass die Wurzel
schwach bleibt und leicht auszureissen ist] NL 1882, KSA 10, 3[1]423, 104, 17-19
ist fast gleichlautend - nur fehlt das „oft“. Nach KGW VII 4/1,104 wurde diese
Aufzeichnung von N. durchgestrichen.
Von seiner Mutter Franziska hatte sich N. am 27. 03.1880 die Zusendung
von Hans Lassen Martensens Christlicher Ethik erbeten (KSB 6/KGB III/l, Nr. 18,
S. 13, Z. 9f.), die sich allerdings in N.s Bibliothek nicht erhalten hat. In dem der
„socialen Ethik“ gewidmeten Band dieses Werks beschäftigt sich der dänische
Bischof ausgiebig mit der Ehe, deren „Liebe [...] dazu bestimmt“ sei, „zu
wachsen, eine Entwickelung zu haben. In vielen Ehen wird dieses Wachs-
thum gehemmt“ (Martensen 1886b, 36). Die Hindernisse, die Martensen dann
 
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