Metadaten

Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0453
Lizenz: Freier Zugang - alle Rechte vorbehalten
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Stellenkommentar JGB 121, KSA 5, S. 94 433

für das Wachstum der Liebe aufzählt, sind sehr allgemeiner Natur - zu wenig
Interesse an den Belangen des Partners, zu viel Vereinnahmung. Dagegen stellt
er fest: Im „harmonischen Zusammenleben, unter dem stätig fortschreitenden
Wachsthum der Liebe, besteht das Glück der Ehe.“ (Ebd., 38). Dass die „Sinn-
lichkeit“ und ihr Wachstum das Liebeswachstum beeinträchtigen könnten,
rückt allerdings nicht in Martensens Blickfeld, ebensowenig ein Liebeswachs-
tum außerhalb der Ehe. Will man JGB 120 also auf der Folie von N.s Martensen-
Rezeption lesen, dann zeichnet sich diese ja zunächst recht konventionell an-
mutende Sentenz mit moralisierendem Unterton - Sinnlichkeit gefährdet die
wahre Liebe - dadurch aus, dass die Ehe als Rahmen der Liebe entfällt und
ein direktes Konkurrenzverhältnis von Liebe und Sinnlichkeit insinuiert wird.
Der Vermittlungstheologe Martensen hätte, im Unterschied zu schrofferen
christlichen Denkern wie Pascal, ein solches direktes Konkurrenzverhältnis
wohl nivelliert und in seinem Harmoniemodell aufgehoben. Dafür gab es bei
N. keine Grundlage mehr; er kehrte zu einer pessimistischeren Anthropologie
zurück, die die , zarte Pflanze der Liebe4 - wenn man von „Wurzel“ spricht,
allegorisiert man die Liebe als Pflanze - allseits bedroht sieht. JGB 120 hat sich
Thomas Mann 1894/95 in einem Notizbuch exzerpiert (Mann 1991, 37).
121.
94,12 f. Es ist eine Feinheit, dass Gott griechisch lernte, als er Schriftsteller wer-
den wollte — und dass er es nicht besser lernte.] Ähnlich lautet NL 1882, KSA
10, 3[1]445, 107, 6-8. Dazu hatte N. noch notiert und schließlich gestrichen:
„Verlogen wie ein Grieche4 sagte man ehemals im Alterthum“ (KGW VII 4/1,
106).
Nach dem Maßstab klassischer Philologen schon des Humanismus ist die
griechische Umgangssprache, die Koine, in der das Neue Testament geschrie-
ben ist, stilistisch minderwertig. Nach der vor allem im Protestantismus lange
hochgehaltenen Lehre von der Verbalinspiration hingegen ist der biblische
Text von Gott direkt und wörtlich den Verfassern eingegeben worden. Mit JGB
121 ironisierte N. in einer „Mischung von Problembewußtsein und Polemik“
(Salaquarda 2000, 324) diese Theorie.
Die Rede von Gott als Schriftsteller hat in der Romantik, etwa bei Friedrich
Schlegel, aber auch bei manchen modernen Bibelexegeten eine gewisse Faszi-
nationskraft entwickelt. Sie geht zurück auf Johann Georg Hamann, in dessen
Biblischen Betrachtungen eines Christen es heißt: „Gott offenbart sich-der
Schöpfer der Welt ist ein Schriftsteller-Was für ein Schicksal werden seine
Bücher erfahren müssen; was für strengen Urtheilen, was für scharfsichtigen
Kunstrichtern werden seine Bücher unterworfen seyn?“ (Hamann 1821, 1, 56.
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften