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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0455
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Stellenkommentar JGB 123, KSA 5, S. 94 435

123.
94,19 f. Auch das Concubinat ist corrumpirt worden: — durch die Ehe.] Was hier
im Perfekt steht, stand in NL 1882, KSA 10, 3[1]416, 103, 23 noch im Präsens.
Das Konkubinat wurde gegen die Ehe bereits in NL 1880, KSA 9, 5[38], 189 f.
ausgespielt, wo die Heirat nur „1) zum Zwecke höherer Entwicklung 2) und
um Früchte eines solchen Menschenthums zu hinterlassen“ (KSA 9, 189, 20 f.)
gebilligt und für alle anderen das „Concubinat, mit Verhinderung der Emp-
fängniß“ (KSA 9, 189, 22) bzw. die Prostitution zur Befriedigung des Ge-
schlechtstriebes empfohlen wurde: „Mögen sie zu ihren Huren gehen!“ (KSA
9, 189, 26). Denn: „die Huren sind ehrlich und thun, was ihnen lieb ist und
ruiniren nicht den Mann durch das ,Band der Ehe4 — diese Erdrosselung!“
(KSA 9,189, 30-190, 2). Weder in M 150, KSA 3,142, wo sich N. mit der Zufällig-
keit und dem mangelnden Nutzen der Ehe beschäftigte, noch in einen anderen
publizierten Text fanden diese Überlegungen zum Nutzen von Konkubinat und
Prostitution Eingang, die selbst N. in ihrem Amoralismus, aber auch in ihrer
rassistisch-eugenischen Dimension („Es soll nicht das Opfer sein, das den
Damen oder dem jüdischen Geldbeutel gebracht wird — sondern der Verbesse-
rung der Rasse“ - KSA 9, 189, 27-29) offensichtlich als nicht publikabel emp-
fand (noch heutige Deuter tun sich schwer damit und halten den Text für
„peinlich“, so Schank 2000, 398).
Mit Ausnahme von MA 1424, KSA 2, 278 f. und JGB 123 bleiben auch spätere
Überlegungen, die das Konkubinat empfehlen, im Nachlass verborgen, vgl. NL
1885/86, KSA 12, 2[22], 76, 7f. (entspricht KGW IX 5, W I 8, 235, 10-12), wonach
man nicht zweifeln dürfe, „daß gerade dem ,Genie4 das Ehebett noch verhäng-
nißvoller sein kann als concubinage und libertinage“. Das Konkubinat dient
in N.s Verständnis offensichtlich ausschließlich der sexuellen, aber nicht ir-
gendeiner seelisch-sentimentalen Befriedigung, worin er mit dem zeitgenössi-
schen Verständnis völlig übereinstimmt: „Konkubinat (lat.), nach röm. Recht
das außereheliche Zusammenleben zweier Personen behufs des bloßen Ge-
schlechtsgenusses und ohne den Zweck, eine Familie zu begründen, ohne af-
fectio maritalis und dignitas uxoris.“ (Brockhaus 1894-1896, 10, 567) „Heutzu-
tage ist das K. in einzelnen Staaten ([...]) verboten und soll durch polizeiliche
Zwangsmaßregeln beseitigt werden, wofern ein solches Verhältnis zu öffentli-
chem Ärgernis Veranlassung gibt“ (Meyer 1885-1892, 10, 9).
Die in JGB 123 behauptete Korruption des Konkubinats wird man in der
Unterstellung zu suchen haben, dass mit den durch die (christliche) Ehe aufge-
kommenen moralisch-sentimentalen Ansprüchen an die Paarbeziehung eine
unbefangene, rein sexuell orientierte Zweisamkeit verunmöglicht oder doch
wenigstens verunglimpft worden sei. Wenn N. von der Korruption des Konku-
binats spricht, ist ihm nicht bloß an der schönen Alliteration gelegen, sondern
 
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