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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0469
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Stellenkommentar JGB 138, KSA 5, S. 97 449

Künstlern verrechnet man sich in umgekehrter Richtung: man erwartet hinter
einem großen Gelehrten den merkwürdigen Menschen zu finden - und ist ent-
täuscht; und man erwartet einen mittelmäßigen Menschen hinter einem mittel-
mäßigen Künstler - und ist abermals enttäuscht.“ Bei N. gehörte zumindest
die Kritik an den nur rezeptiven „Gelehrten“ seit seiner Schopenhauer-Begeis-
terung und seit den Basler Frühschriften zum polemischen Standardrepertoire,
das sich nahtlos in die Sphäre des »freien Geistes4 überführen ließ (vgl. z. B. NL
1882, KSA 10, 3[1]444, 106, 23-25: „Mit dem Wort »Gelehrter4 bezeichnet man
sowohl die Soldaten des Geistes als — leider — auch die Strumpfwirker des
Geistes. Keine erbärmlichere Gesellschaft giebt es als die von Gelehrten: jene
Wenigen abgerechnet, die militärische Gelüste im Leibe und Kopfe haben“).
Immerhin pflegte N. bis dahin den „Künstler“ als schöpferischen Gegentypus
des „Gelehrten“ zu installisieren. JGB 137 stellt nun beide Typen in eine Linie.
„Merkwürdig“ hat hier die alte Bedeutung von „bemerkenswert“, wie in
dem zu N.s Zeit durch literaturhistorische Übersichtswerke weitverbreiteten Ur-
teil von Johann Christian Kestner über den jungen Goethe: „er ist mit einem
Wort ein sehr merkwürdiger Mensch; ich würde nicht fertig werden, wenn ich
ihn ganz schildern wollte“ (zitiert nach Hettner 1869, 3/3/1, 114).
138.
97, 11-13 Wir machen es auch im Wachen wie im Traume: wir erfinden und
erdichten erst den Menschen, mit dem wir verkehren — und vergessen es sofort.]
Die Fassung in NL 1880, KSA 10, 3[1]24, 56, 19-22 macht in ihrer Ausführlich-
keit unmissverständlich deutlich, was vergessen wird: „Wir machen es auch
im Wachen wie im Traum: immer erfinden und erdichten wir erst die Men-
schen, mit denen wir verkehren — und vergessen sofort, daß sie erfunden und
erdichtet sind.“ (Vgl. die in KGW VII4/1, 61 mitgeteilten Varianten). In NL 1882,
KSA 10, 22[3], 620, 20-23 steht statt der starken Eingangsbehauptung eine Fra-
ge: „Machen wir es nicht im Wachen wie im Traume? Immer erfinden und
erdichten wir erst den Menschen, mit dem wir verkehren — und einen Augen-
blick nachher schon haben wir das vergessen.“ Diese fragende Abschwächung
nimmt JGB 138 allerdings nicht auf, sondern greift auf die erste Fassung zu-
rück. Am 06. 02.1884 trug N. schließlich einen ähnlichen Text in Nizza auf ein
Blatt im Stammbuch einer Tochter des preußischen Generalmajors Carl August
Simon ein: „Die Einen reisen, weil sie sich suchen; die Andern, weil sie sich
verlieren möchten. /+++/ Wir machen es auch im Wachen wie im Traume: im-
mer erfinden und erdichten wir erst den Menschen, mit dem wir verkehren —
und vergessen dann sofort, daß wir ihn erfunden und erdichtet haben.“ (KSB
6/KGB III/l, Nr. 487, S. 476, Z. 2-8) Hier wird, anders als in der ersten Fassung,
durch die Hervorhebung des „wir“ die aktive Seite des Erfindens betont.
 
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