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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0475
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Stellenkommentar JGB 147, KSA 5, S. 98 455

auch in dich hinein.] Direkte Vorarbeiten zu diesem Abschnitt sind in N.s Nach-
lass nicht erhalten. Der Kampf mit Ungeheuern gehörte vor dem Hintergrund
von Wagners Opern - namentlich Siegfried - zu N.s frühem Selbstverständnis
(vgl. seine Widmung zu UB I DS und Overbecks Christlichkeit: „Ein Zwillings-
paar aus einem Haus / gieng muthig in die Welt hinaus, / Welt-Drachen zu
zerreissen“ - NL 1873, KSA 7, 17[10], 410, 23-25, dazu Sommer 1997, 112). Mehr
und mehr gewann N. allerdings Distanz zu dieser Kampfeslust, am deutlichs-
ten in FW 56, wo die Realität der von „Politiker[n]“ beschrieenen „Nothstände“
bestritten wird und das darauf gerichtete Bedürfnis der jungen Europäer psy-
chologisch begründet wird: „ihre Phantasie ist schon voraus geschäftig, ein
Ungeheuer daraus zu formen, damit sie nachher mit einem Ungeheuer kämp-
fen könne“ (KSA 3, 418, 29-31). JGB 146 zieht daraus die Konsequenz, dass der
mit dem Ungeheuer Kämpfende selbst zum Ungeheuer zu werden drohe.
N. hatte eine Vorliebe für Abgrund-Metaphern, etwa in Za, aber auch in DD,
vgl. z. B. NK KSA 6, ÜK DD Zwischen Raubvögeln; gelegentlich identifizierte er
den Philosophen mit dem Abgrund (vgl. NK KSA 6,287,1-26 u. Groddeck 1991,2,
26). Schon GT 9, KSA 1, 66,25 hat eine Wirkung von Sophokles’ Ödipus als „Blick
in den Abgrund“ gekennzeichnet. Der zweite Satz von JGB 146 ist die Umsetzung
des in der lateinischen Vulgata-Version sprichwörtlich gewordenen Verses
Psalm 42,8 (41,8): „Abyssus abyssum invocat“, „der Abgrund ruft den Abgrund
an“. Gustav Glogau zitiert in seiner Rezension von JGB für die Deutsche Litte-
raturzeitung vom 30.10.1886 den zweiten Satz des Abschnitts 146, und zwar als
Beleg für „einen vornehmeren Pessimismus“ (KGB III 7/3, 2, 862 = Reich 2012,
632). Dieser zweite Satz ist übrigens als Motto bei Thrillern ebenso beliebt wie als
Arbeitsbeschreibung von kriminalistischen Profilern (dazu Reichertz 2002,38).
147.
98, 23-25 Aus alten florentinischen Novellen, überdies — aus dem Leben: buo-
na femmina e mala femmina vuol bastone. Sacchetti Nov. 86.] Italienisch: „eine
gute Frau und eine schlechte Frau wollen den Stock“. N. hat sich das Zitat
bereits in NL 1884, KSA 11, 26[337], 239 notiert. Die Wiedergabe in JGB 147
sowie im Nachlass verkehrt das in Novella 86 des italienischen Dichters Franco
Sacchetti (ca. 1332-1400) Gemeinte ins Gegenteil: „E comecche uno proverbio
dica: Buona femmina, e mala femmina vuole bastone; io sono colui ehe credo
ehe la mala femmina vuole bastone, ma alla buona non e di bisogno“ (Novelle
di autori senesi 1833, 1600. „Und obwohl ein Sprichwort sagt: Eine gute Frau
und eine schlechte Frau wollen den Stock, glaube ich doch, dass die böse Frau
den Stock will, aber die gute seiner nicht bedarf.“).
N. hat freilich Sacchettis Trecentonovelle nicht selbst gelesen, sondern
schöpft das Zitat bereits in einschlägig gekürzter und damit entstellter Form
 
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