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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0477
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Stellenkommentar JGB 149, KSA 5, S. 99 457

eines älteren Ideals.] Vorweggenommen wurde die Überlegung in MA I 42, wo-
nach „die Rangordnung der Güter [...] keine zu allen Zeiten feste und gleiche“
sei: „wenn Jemand Rache der Gerechtigkeit vorzieht, so ist er nach dem Maass-
stabe einer früheren Cultur moralisch, nach dem der jetzigen unmoralisch“
(KSA 2, 65, 22-25). Ein genaues Umkehrschema moralisch/unmoralisch gibt NL
1880, KSA 9, 3[66], 65, 5-7 vor: „Alles, was wir jetzt unmoralisch nennen, ist
irgendwann und irgendwo einmal moralisch gewesen. Was bürgt uns dafür,
daß es seinen Namen nicht noch einmal verändert?“ (Vgl. auch M 3, KSA 3,
19 f.) Hier kreist der Gedanke stets allgemein um die historische Bedingtheit
moralischen Urteilens, während JGB 149 das Moment des „Atavismus“ in den
Brennpunkt rückt - Atavismus als „Rückschlag zur Ahnenähnlichkeit, [...] Auf-
treten der Erblichkeit gewisser Eigentümlichkeiten der Körperbildung, auch ge-
wisser Krankheitsanlagen, geistiger Eigenschaften etc. von mehr oder weniger
entfernten Ahnen“ (Meyer 1885-1892,1, 990, vgl. die N. direkt bekannte Atavis-
mus-Definition bei Hellwald 1876-1877a, 1, 28 f., zitiert in NK 34, 22-25).
Der moralische Atavismus ist auch in Gliederungsrubriken zum Heft MIII1
präsent: „26. Böse — Atavism des Guten von ehemals. 36. 37b.“ (NL 1882,
KSA 9, 21[3]26, 684, 22) Die Seitenzahlen beziehen sich hier auf die Notate NL
1881, KSA 9, ll[101], 477 u. 11[279] 548 f. Ersteres lautet: „Ich sehe in dem, was
eine Zeit als böse empfindet, das was ihrem Ideale widerspricht, also einen
Atavismus des ehemaligen Guten: z.B. eine gröbere Art von Grau-
samkeit Mordlust als heute vertragen wird. Irgendwann war die Handlung je-
des Verbrechers eine Tugend. Aber jetzt empfindet er selber sie mit dem
Gewissen der Zeit — er legt sie böse aus. Alles oder das Meiste, was Menschen
thun und denken, als böse auslegen, geschieht dann, wenn das Ideal dem
menschlichen Wesen überhaupt nicht entspricht (Christenthum): so wird alles
Erbsünde, während es eigentlich Erb fügend ist.“ (NL 1881, KSA 9, ll[101],
477, 21-31) Gestrafft und quasi für JGB 149 zubereitet wird die Überlegung in
NL 1882, KSA 10, 3[1]76, 62,15-19: „Was eine Zeit als böse empfindet, worin sie
den Widerspruch mit ihrem Ideale erkennt, das ist in Wahrheit ein Nachschlag
dessen, was ehemals als gut galt und gleichsam der Atavismus eines alten
Ideals. Erbsünde — das ist unter allen Umständen = Erbtugend.“ (Vgl. die
Variante in KGW VII 4/1, 66) .
Die Entgegensetzung von „Erbsünde“ und „Erbtugend“ war im 19. Jahr-
hundert geläufig - gerichtet gegen die traditionelle christliche Lehre von der
Verderbtheit der menschlichen Natur durch die Erbsünde (vgl. als Belege unter
N.s Lektüren z. B. [Hillebrand] 1874b, 58 oder Goethe 1853-1858, 33, 60: „Wenn
gewisse Erscheinungen an der menschlichen Natur, betrachtet von Seiten der
Sittlichkeit, uns nöthigen, ihr eine Art von radicalem Bösen, eine Erbsünde
zuzuschreiben, so fordern andere Manifestationen derselben: ihr gleichfalls
 
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