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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0486
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466 Jenseits von Gut und Böse

KSA 10, 3[1]174, 74, 2f. lautet schon fast gleich: „Der Gedanke an den Selbst-
mord ist ein sehr starkes Trostmittel. Man kommt damit gut über die ,böse
Nacht4 hinweg.“ Die Formulierung, dass Suizid ein „Trostmittel“ sei, lässt sich
schon früher belegen, so etwa in einem Artikel der von N. während seiner Bas-
ler Zeit rege konsultierten Wochenschrift Das Ausland (vgl. Treiber 1996), in
dem es heißt: „Das Loos der chinesischen Frauen ist im allgemeinen ein sehr
trauriges, weßhalb sie denn auch von dem einzigen Trostmittel, welches ihnen
zu Gebote steht, nämlich vom Selbstmord, reichlich Gebrauch machen.“ (Ano-
nym 1862, 794) Bei der Lektüre einer längeren Passage über die niedrige Selbst-
mordrate in Italien im Vergleich mit Sachsen in Albert Trolles Das italienische
Volkstum und seine Abhängigkeit von den Naturbedingungen machte N. eine
Nutzanwendung seiner 1882 gewonnenen Einsicht, wenn er zu dem Satz: „Ei-
nen je grösseren Raum die Vorstellung von dem Wert und der Bedeutung des
eigenen Ich in der Seele des Menschen einnimmt, desto mehr wird er vor der
absoluten Verneinung desselben, dem Tode, zurückschrecken, so lange näm-
lich sich dieses Ich der Aussenwelt gegenüber nur noch irgendwie zur Geltung
bringen kann“ (Trolle 1885, 80. N.s Unterstreichungen), an den Rand schreibt:
„Nein! Oh Esel!“.
Franz Overbeck notierte zu JGB157 in seinen nachgelassenen Aufzeichnun-
gen unter der Überschrift „Nietzsche Lehre Selbstmord“: „Lehrreich ist es
auch, dass N. den Selbstmord, wenigstens ,den Gedanken daran4, zu den
,Trostmitteln4 stellte, mit denen man ,gut über manche böse Nacht hinwegkom-
me4 (Jenseits von Gut (und} Böse), d. h. dahin, wohin er manches stellte, des-
sen Gebrauch er für sich ablehnte, zB. Das Christenthum“ (Overbeck 1999, 7/2,
111).
Der in JGB 157 formulierte Gedanke erinnert trotz der steten Polemik gegen
die Stoa in N.s Texten (vgl. aber die differenzierten Urteile bei Bertino 2007 u.
Neymeyr 2009) an stoische Vorbilder, namentlich an Seneca, dem zufolge das
„ewige Gesetz nichts Besseres geleistet“ habe, als dass es uns einen einzigen
Eingang [unum introitum] in das Leben gegeben, Ausgänge hingegen viele [exL
tus multos]“ (Lucius Annaeus Seneca: Epistulae morales ad Lucilium VIII 70,
12). Den Gegensatz zwischen der antik-philosophischen und der christlichen
sowie der modernen Haltung gegenüber dem Suizid betonte unter N.s intensi-
veren Lektüren besonders Lecky 1879, 1, 191-201 u. 2, 35-38 (vgl. KSA 6, 134,
29-135, 8). Der Gedanke an die stets gegebene Möglichkeit des Suizids soll das
Leben nicht lähmen, sondern ihm Auftrieb geben - doch bedarf, wer das Leben
bejaht, der „Trostmittel“? MA II WS 185, KSA 2, 632 f. charakterisiert den Suizid
als „vernünftigen Tod[.]44 (KSA 2, 632, 20); in den Briefen der frühen
1880er Jahre spielte N. häufiger einmal mit dem Gedanken, sich selber zu tö-
ten, vgl. z. B. N. an Otto Eiser, Anfang Januar 1880, KSB 6/KGB III/l, Nr. 1, S. 3,
 
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