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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0504
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484 Jenseits von Gut und Böse

Die Vorfassungen kamen noch ohne die abstrakte Schulbezeichnung „Utilitari-
er“ aus: „Wir lieben den Nutzen nur als das Fuhrwerk unserer Neigungen: und
finden eigentlich den Lärm seiner Räder unausstehlich.“ (NL 1882, KSA 10,
3[l]109, 66, 13-15, vgl. die in KGW VII 4/1, 69 mitgeteilten Varianten. In NL
1882/83, KSA 10, 4[46], 123, 7f. erscheint der „Nutzen“ als „Räderwerk“.) Die
durch den Pluralis auctoris naheliegende selbstkritische Lesart wird in NL
1884/85, KSA 11, 31[52], 385, 20 f. unterbunden: „ihr liebt den Nutzen als das
Fuhrwerk eurer Neigungen: aber ist nicht der Lärm seiner Räder auch euch
noch unerträglich?“ (sehr ähnlich NL 1884/85, KSA 11, 32[10], 408, 14-16, dort
ergänzt um die Erklärung: „Ich liebe das Unnützliche“). Gegen die „Utilitarier“
ist dann die andere Notat-Linie, die in JGB 174 kulminiert, explizit gerichtet:
„Das utile ist immer nur Mittel, sein Zweck ist jedenfalls das dulce. Die Utilitari-
er sind dumm.“ (NL 1882/83, KSA 10, 4[59], 128, 4f.) Für NL 1883, KSA 10,
12[1]132, 394, 17 f. erfand N. sogar noch einen Parallelbegriff für die Utilitarier:
„Das utile ist nur ein Mittel; sein Zweck ist immer irgend ein dulce — seid doch
ehrlich, meine Herren Dulciarier!“
Zu Beginn seiner Sittengeschichte Europas beschäftigte sich Lecky sehr ein-
gehend mit der „Schule der Utilitarier“ (Lecky 1879, 1, 7-17), was N. in seinem
Handexemplar zu einer Fülle von Anstreichungen und Anmerkungen veran-
lasste. „Nach diesen Schriftstellern werden wir ausschliesslich von unserem
eigenen Interesse beherrscht. Das Vergnügen ist das einzig Gute, und das Sitt-
lichgute und Sittlichböse sind nichts weiter, als unsere freiwillige Ueberein-
stimmung mit einem Gesetze, wodurch wir zum Vergnügen gelangen.“ (Ebd.,
1, 7) Damit ist die im Weiteren von Lecky diskutierte Identifikation eines utilita-
ristischen und eines hedonistischen Standpunktes begründet, auf die die Eng-
führung des „utile“ (Nützlichen) und „dulce“ (Angenehmen) im zuletzt zitier-
ten Nachlass-Notat hinausläuft. „Es ist eine sehr alte Behauptung, dass, wenn
ein Mensch auf kluge Weise sein eigenes Interesse verfolgte, er ein Leben voll-
kommener Tugend führen würde. Zu dieser Meinung bekennen sich die meis-
ten [...] Utilitarier“ (ebd., 1, 11). N., der die Stelle am Rand anstrich, glossierte
dazu: „falsch / grundfalsch“. Und weiter bei Lecky: „Das /13/ ganze System
dieser Ethik lässt sich auf die folgenden vier Regeln Epikur’s zurückführen:
Das Vergnügen, welches keinen Schmerz erzeugt, ist zu geniessen. Der
Schmerz, welcher kein Vergnügen erzeugt, ist zu meiden. Das Vergnügen ist
zu meiden, welches ein grösseres Vergnügen hindert oder einen grösseren
Schmerz erzeugt. Der Schmerz ist zu erdulden, welcher einen grösseren
Schmerz verhütet oder ein grösseres Vergnügen sichert.“ (Ebd., 1, 12f. Auch
diese Stelle hat N. mit einer Randanstreichung, mit „Epicur“ und einem „NB“
als Glossen versehen.) Wichtig ist festzuhalten, dass weder Lecky noch N. mit
dem Begriff „Utilitarier“ ausschließlich oder in erster Linie die philosophischen
 
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