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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0507
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Stellenkommentar JGB 178, KSA 5, S. 103 487

Vorbehalten gegen „jene berühmte Wahrhaftigkeit, von der alle Philosophen
bisher mit Ehrerbietung geredet haben“, beginnt bereits JGB 1 (KSA 5, 15, 5 f.).
Im Unterschied zu der in N.s Texten oft eingeforderten Redlichkeit hat Wahr-
haftigkeit, die im christlichen Kontext mit einem absoluten Verbot der Lüge
einhergeht, ja dieser Lüge sogar eine tödliche Wahrheit vorzuziehen gebietet
(vgl. z. B. Aurelius Augustinus: Contra mendacium 36), bei N. mit zu starken
metaphysischen Belastungen zu kämpfen, als dass sie - auch wenn sie gele-
gentlich mit positiver Konnotation begegnet - eine fraglose Tugend sein könn-
te. Noch bei Schopenhauer fand sich eine traditionelle Hochschätzung der
Wahrhaftigkeit (vgl. die Belegstellen bei Frauenstädt 1871, 2, 452 f.). Den „be-
rühmten Weisen“, die „des Volkes Aberglauben“ statt „der Wahrheit“ gedient
haben (Za II Von den berühmten Weisen, KSA 4,132, 2 f.), bescheidet Zarathust-
ra: „Ach, dass ich an eure »Wahrhaftigkeit4 glauben lerne, dazu müsstet ihr mir
erst euren verehrenden Willen zerbrechen. / Wahrhaftig — so heisse ich Den,
der in götterlose Wüsten geht und sein verehrendes Herz zerbrochen hat.“
(KSA 4, 133, 5-8) Hier ist ein Begriff von Wahrhaftigkeit intendiert, für den
die beherzte Abwendung von der metaphysischen Wahrheitstradition gerade
konstitutiv ist. M 73, KSA 3, 72 dividiert explizit gegen die Christen Genese
und Geltung von Wahrhaftigkeit und Wahrheit auseinander: Wahrhaftigkeit
beweise nichts für die Wahrheit. In M 456, KSA 3, 275 findet sich schließlich
eine ausdrückliche Abstufung, die die Wahrhaftigkeit, welche es zu erlauben
scheine, „es mit der Wahrheit leichter zu nehmen“ (KSA 3, 275, 22f.), der
Redlichkeit als einer „der jüngsten Tugenden“ (KSA 3, 275, 25) unterordnet.
JGB 177 wendet sich gegen die Gedankenlosigkeit der traditionellen Inan-
spruchnahme von Wahrhaftigkeit, indem die Sentenz deren problematisches
Verhältnis zur Wahrheit herausteilt, die es vielleicht gar nicht gibt, oder die
vielleicht erlogen ist, oder die sich vielleicht allem Zugriff entzieht. Vgl. neben
NK 15, 4-7 und der systematischen Abhandlung von Bernard Williams über
Wahrheit und Wahrhaftigkeit (Williams 2002) auch Emmerich 1933; Denecke
1972, 23-39, v. a. aber Tongeren 1999, 95-135.
178.
103,14 f. Klugen Menschen glaubt man ihre Thorheiten nicht: welche Einbusse
an Menschenrechten!] Vgl. NK 89,15 f. In den Vorstufen war nicht von „klugen“,
sondern von „kalten Menschen“ die Rede: „Den kalten Menschen glaubt man
ihre Thorheiten nicht.“ (NL 1882, KSA 10, 3[1]139, 69, 23; NL 1882, KSA 10,
12[1] 109, 392, 14 f. ersetzten die „Thorheiten“ durch „Dummheiten“. Die ur-
sprüngliche Fassung von 3[1]139 lautete: „Den kalten Menschen glaubt man
nicht ihre Tugenden, aber man glaubt sie selber“. KGW VII 4/1, 72). In den Za-
 
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