496 Jenseits von Gut und Böse
die Formel „Wissenschaft der Moral“ verwendet, zunächst eher unspezifisch in
Frederik Anton von Hartsens Moral des Pessimismus (Hartsen 1874, 7), sodann
(nach dem Vorwort) im allerersten Satz von Baumanns Handbuch der Moral:
„Gewöhnlich stellt die Wissenschaft der Moral die Ideale voran, welche der
Mensch oder die Menschheit verwirklichen soll, und weist dann dem Willen
die Aufgabe zu in ihnen zu leben und danach zu handeln. Jene Lehre von dem,
was sein soll, pflegt dabei ausführlich zu sein, diese von der Verwirklichung
durch den Willen fällt meist nur kurz aus. Im Leben stellt sich die Sache ganz
anders; das Schwierige ist da nicht so sehr das Ideal zu finden, als vielmehr
die Verwirklichung desselben durch den Willen bewerkstelligen“ (Baumann
1879,1. N.s Unterstreichungen, Randmarkierung von seiner Hand. Vgl. Brusotti
1997,139, der zwar die Baumann-Stelle nachweist, aber sie nicht in Zusammen-
hang mit JGB 186 bringt). Auch bei Baumann ist die kritische Stoßrichtung
unverkennbar, die sich gegen eine als Idealwissenschaft missverstandene Mo-
ralwissenschaft wendet. Ihn interessiert durchaus auch die Variation der Moral
in der Geschichte; den Hauptakzent legt er aber auf die Frage der Verwirklich-
barkeit der Ideale, während es bei N. um eine Fundamentalkritik der Ideale
geht. Im Fortgang von Baumanns Buch gewinnt die „Wissenschaft der Moral“
keine terminologische Kraft, sie verschwindet schlicht.
Viel größere Prominenz erlangt die „Wissenschaft der Moral“ hingegen in
einem Werk, dessen Lektüre sich bei N. allerdings nicht direkt nachweisen
lässt (vgl. aber NK 50, 17 f.), nämlich in William Mackintire Salters Die Religion
der Moral. Für Salter ist die „Frage, ob es etwas Absolutes in der Moral giebt -
das ist, etwas Festes, was nicht wir zu einem Festen machen und was sich
nicht verändert, ob auch wir uns verändern - [...] in Wirklichkeit die Frage, ob
es eine Wissenschaft der Moral geben kann. Denn wenn Moral nichts mehr ist,
als des Menschen wechselnde Meinungen über das Handeln, von der Urzeit
an bis herab auf die Gegenwart, so haben wir in der Zusammenstellung und
Klassifizierung derselben nicht mehr eine Wissenschaft der Moral, als wir eine
Wissenschaft der Astronomie erhalten würden durch eine Zusammenstellung
und Klassifizierung aller der Meinungen der Menschen von den himmlischen
Körpern, von Homers Zeiten an bis auf die Gegenwart. Wissenschaft ist nicht
eine Aufzählung von Meinungen, sondern von denjenigen Meinungen, welche
wahr sind; und wenn die Ethik des Gedankens eines Maßstabs beraubt wird,
welcher unabhängig ist von der wechselnden moralischen Meinung, so ist eine
Wissenschaft der Ethik unmöglich.“ (Salter 1885, 116) Für Salter ist eine „Wis-
senschaft der Moral“ also ein Prinzipienwissen um wahre Sätze, keine Samm-
lung historischer Materialien - sie wäre überhaupt keine historische Wissen-
schaft. Genau dies aber müsste eine ernstzunehmende „Wissenschaft der Mo-
ral“ - für die N. beispielsweise auch in den Werken seines Freundes Paul Ree
die Formel „Wissenschaft der Moral“ verwendet, zunächst eher unspezifisch in
Frederik Anton von Hartsens Moral des Pessimismus (Hartsen 1874, 7), sodann
(nach dem Vorwort) im allerersten Satz von Baumanns Handbuch der Moral:
„Gewöhnlich stellt die Wissenschaft der Moral die Ideale voran, welche der
Mensch oder die Menschheit verwirklichen soll, und weist dann dem Willen
die Aufgabe zu in ihnen zu leben und danach zu handeln. Jene Lehre von dem,
was sein soll, pflegt dabei ausführlich zu sein, diese von der Verwirklichung
durch den Willen fällt meist nur kurz aus. Im Leben stellt sich die Sache ganz
anders; das Schwierige ist da nicht so sehr das Ideal zu finden, als vielmehr
die Verwirklichung desselben durch den Willen bewerkstelligen“ (Baumann
1879,1. N.s Unterstreichungen, Randmarkierung von seiner Hand. Vgl. Brusotti
1997,139, der zwar die Baumann-Stelle nachweist, aber sie nicht in Zusammen-
hang mit JGB 186 bringt). Auch bei Baumann ist die kritische Stoßrichtung
unverkennbar, die sich gegen eine als Idealwissenschaft missverstandene Mo-
ralwissenschaft wendet. Ihn interessiert durchaus auch die Variation der Moral
in der Geschichte; den Hauptakzent legt er aber auf die Frage der Verwirklich-
barkeit der Ideale, während es bei N. um eine Fundamentalkritik der Ideale
geht. Im Fortgang von Baumanns Buch gewinnt die „Wissenschaft der Moral“
keine terminologische Kraft, sie verschwindet schlicht.
Viel größere Prominenz erlangt die „Wissenschaft der Moral“ hingegen in
einem Werk, dessen Lektüre sich bei N. allerdings nicht direkt nachweisen
lässt (vgl. aber NK 50, 17 f.), nämlich in William Mackintire Salters Die Religion
der Moral. Für Salter ist die „Frage, ob es etwas Absolutes in der Moral giebt -
das ist, etwas Festes, was nicht wir zu einem Festen machen und was sich
nicht verändert, ob auch wir uns verändern - [...] in Wirklichkeit die Frage, ob
es eine Wissenschaft der Moral geben kann. Denn wenn Moral nichts mehr ist,
als des Menschen wechselnde Meinungen über das Handeln, von der Urzeit
an bis herab auf die Gegenwart, so haben wir in der Zusammenstellung und
Klassifizierung derselben nicht mehr eine Wissenschaft der Moral, als wir eine
Wissenschaft der Astronomie erhalten würden durch eine Zusammenstellung
und Klassifizierung aller der Meinungen der Menschen von den himmlischen
Körpern, von Homers Zeiten an bis auf die Gegenwart. Wissenschaft ist nicht
eine Aufzählung von Meinungen, sondern von denjenigen Meinungen, welche
wahr sind; und wenn die Ethik des Gedankens eines Maßstabs beraubt wird,
welcher unabhängig ist von der wechselnden moralischen Meinung, so ist eine
Wissenschaft der Ethik unmöglich.“ (Salter 1885, 116) Für Salter ist eine „Wis-
senschaft der Moral“ also ein Prinzipienwissen um wahre Sätze, keine Samm-
lung historischer Materialien - sie wäre überhaupt keine historische Wissen-
schaft. Genau dies aber müsste eine ernstzunehmende „Wissenschaft der Mo-
ral“ - für die N. beispielsweise auch in den Werken seines Freundes Paul Ree