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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0543
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Stellenkommentar JGB 194, KSA 5, S. 115 523

Die Eingangspassage zu JGB 194 postuliert einen moralischen Pluralismus,
der sich bemüht, aus der Verschiedenheit gemeinschaftlicher und ganz indivi-
dueller Präferenzen ,,[d]ie Verschiedenheit der Menschen“ (115, 10) aufzuwei-
sen. Im Rampenlicht steht dabei - und das stellt eine Provokation für die am
Gut-Sein ausgerichtete moralische Tradition des Abendlandes dar - das Ha-
ben, das Besitzen von Gütern, das im Rückgriff auf die eben mitgeteilte Auf-
zeichnung von 1881 zuerst an den unterschiedlichen Formen der Liebe als Be-
sitz exemplifiziert wird. Daran schließen sich weitere Formen des Besitzen-
Wollens an - vom Politiker, der ein Volk besitzen will, bis hin zu den Eltern,
die ihr Kind besitzen wollen. Das Demonstrationsinteresse von JGB 194 liegt
trotz des Anfangs nicht so sehr darin zu zeigen, dass Menschen irreduzibel
verschieden seien, sondern im Nachweis, dass menschliches Verhalten auf ein
Besitzen-Wollen abziele - und dass auch Moral nichts weiter als die Kodifikati-
on eines solchen Besitzen-Wollens darstelle. JGB 194 handelt sich mit seiner
Verschiedenheitsthese allerdings ein systematisches Problem ein, denn wenn
tatsächlich jeder andere Besitz-Präferenzen hat und diesen Besitz-Präferenzen
auch Moralen zu subsumieren sind, ist nicht mehr wirklich erklärlich, wie
denn die Dominanz der Herdenmoral im Abendland überhaupt hat zustande
kommen können. Sind die Verschiedenheit der Menschen und ihrer moralisch-
possessivischen Präferenzen irreduzibel, dann dürfte es auch kein Überhand-
nehmen bestimmter Wertpräferenzen geben, keinen platonisch-christlichen
Albdruck. Da ist es auch keine Lösung, statt von der „Verschiedenheit der Men-
schen“ von der „Werth-Verschiedenheit der Menschen“ (NL 1885, KSA 11,
36[17], 559, 8f., entspricht KGWIX 4, W14, 3f.) zu sprechen. Auch die Behaup-
tung einer solchen Wertverschiedenheit wäre nichts weiter als der Ausdruck
einer individuellen Besitz-Präferenz. Karl Jaspers notierte als Quintessenz von
JGB 194 an den Rand: „Wie man Menschen besitzen will“ (Nietzsche 1923,124).
115,10-16 Die Verschiedenheit der Menschen zeigt sich nicht nur in der Verschie-
denheit ihrer Gütertafeln, also darin, dass sie verschiedene Güter für erstrebens-
werth halten und auch über das Mehr und Weniger des Werthes, über die Rang-
ordnung der gemeinsam anerkannten Güter mit einander uneins sind: — sie zeigt
sich noch mehr in dem, was ihnen als wirkliches Haben und Besitzen eines
Gutes gilt.] Als „NB“ vermerkte N. in NL 1885, KSA 11, 34[222], 496,16 (korrigiert
nach KGW IX 1, N VII1,1): „Die Verschiedenheit der Menschen ist so groß.“ In
einem Werkplan, den N. für den damals noch ins Auge gefassten Folgeband
von Menschliches, Allzumenschliches aufstellte, aus dem schließlich JGB wurde,
heißt es: „,Die Verschiedenheit der Menschen zeigt sich nicht nur in der Ver-
schiedenheit ihrer Gütertafeln“4 (NL 1885, KSA 11, 42[3], 693, 21 f.). Eine direkte
Vorlage konnte N. in dem von ihm studierten Handschriftlichen Nachlaß Scho-
penhauers finden: „Daß dieselbe Philosophie für Narren und Weise taugen sol-
 
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