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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0546
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526 Jenseits von Gut und Böse

mit „Heilig“ und „Freund“ zu brauchen) liegt die Bedeutung des jüdischen Volks:
mit ihm beginnt der Sklaven-Auf stand in der Moral.] In der (Verfalls-)
Geschichte der abendländischen Moral(en) weist JGB 195 mit diesem Passus
dem Judentum eine zentrale Stellung zu, während bei N. bis dahin eher Sokra-
tes und Platon die Hauptkandidaten als Umwerter und Schwergewichtsverla-
gerer zu sein schienen. Diese Rolle eines weltgeschichtlichen Verhängnisses,
das N.s Texte fortan dem antiken (aber nicht dem neuzeitlichen!) Judentum
zuschreiben sollten - in GM I 7, KSA 5, 267, 30-268, 5 unter ausdrücklicher
Berufung auf JGB 195 -, wird dann in AC 24 bis AC 27, KSA 6, 191-198 zu einer
Geschichte des Alten Israel sowie des exilischen und nachexilischen Juden-
tums ausgeweitet, um zu erklären, wie das Christentum und mit ihm die Uni-
versalisierung des moralischen ,Sklavenaufstandes4 möglich geworden sind. In
AC werden intensiv die Arbeiten von Julius Wellhausen herangezogen, wäh-
rend in JGB 195 und der dazugehörigen Vorarbeit Ernest Renan die Quelle ist:
„Die Propheten als Volkstribunen: sie haben ,reich4 »gottlos4 ,böse4, »gewaltthä-
tig4, in Eins geschmolzen. - Hier liegt die Bedeutung des jüdischen Volks: es
ist der Sklaven-Aufstand in der Moral. (Der Jude und Syrer als geboren zur
Sklaverei nach Tacitus) »Luxus als Verbrechen4 Der Name (Ebion) ,Arm4 wird
synonym mit »heilig4 und »Freund Gottes4 44 (W I 1, zitiert nach KSA 14, 359 f.).
N. exzerpierte die hierfür benutzte Passage aus Renans Vie de Jesus auf Franzö-
sisch noch einmal in NL 1887/88, KSA 13, ll[405], 186, 15-187, 5 (KGW IX 7, W
II 3, 8, 2-26) und verwertete sie erneut in GD (vgl. NK KSA 6, 101, 28) sowie in
AC (vgl. NK KSA 6,183, 20 f.). Sie lautet: „Les /188/ prophetes, vrais tribuns et,
on peut le dire, les plus hardis des tribuns, avaient tonne sans cesse contre les
grands et etabli une etroite relation d’une part entre les mots de »riche, impie,
violent, mechant4, de l’autre entre les mots de »pauvre, doux, humble, pieux4.
Sous les Seleucides, les aristocrates ayant presque tous apostasie et passe ä
l’hellenisme, ces associations d’idees ne firent que se fortifier. Le livre d’He-
noch contient des maledictions plus violentes encore que celles de l’Evangile
contre le monde, les riches, les puissants. Le luxe y est presente comme un
crime. [...] /189/ [...] Le nom de »pauvre4 (ebiori) etait devenu synonyme de
»saint4, d’,ami de Dien4. C’etait le nom que les disciples galileens de Jesus amai-
ent ä se donner44 (Renan 1867, 187-189. „Die Propheten, wahre Tribunen und,
dies kann man sagen, die mutigsten der Tribunen, hatten ohne Unterlass ge-
gen die Großen gedonnert und eine enge Verbindung einerseits zwischen den
Worten ,reich, gottlos, gewalttätig, böse4 und andererseits zwischen den Wor-
ten ,arm, sanft, bescheiden, fromm4 geschaffen. Unter den Seleukiden, als die
Aristokraten fast alle vom Glauben abgefallen und zum Hellenismus überge-
gangen waren, verstärkten sich diese Gedankenverbindungen noch mehr. Das
Buch Henoch enthält noch stärkere Verfluchungen als diejenigen des Evangeli-
 
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