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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0554
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534 Jenseits von Gut und Böse

erst bei der Drucklegung durch „Aristotelismus“ ersetzte, siehe NK 118, 25-27)
über das Christentum („Liebe zu Gott“ - 118, 30) bis hin zu Spinoza, Hafis
und Goethe, die der „Moral als Furchtsamkeit“ zugeschlagen werden. JGB 198
besteht syntaktisch aus nur zwei Sätzen: dem syntaktisch unvollständigen
Schlussatz „Auch Dies zum Kapitel,Moral der Furchtsamkeit“4 (119, 3) von we-
niger als einer Zeile Umfang sowie einem verschachtelten Satzungetüm, das
in der Erstausgabe anderthalb Seiten umfasst und sich über drei Druckseiten
erstreckt (Nietzsche 1886, 119-121).
Das Hauptargument gegen die herkömmlichen philosophischen Moralen
in globo ist nun nicht etwa die ihnen innewohnende vermittelmäßigende Ten-
denz, sondern, dass sie Generalisierungen darstellen, „wo nicht generalisirt
werden darf“ (118, 12). Dagegen sollen diese Moralen als jeweils individuell
adressierte „Recepte“ (118, 6) verstanden werden, die einem Individuum über
seine ganz spezifische „Gefährlichkeit“ (118, 5) hinweghelfen, also das
bannen, was man früher Versuchungen genannt hätte. Dabei stellen sich diese
Moralen nur als die Camouflage sehr dürftiger „Klugheiten“ (118, 8) heraus
und keineswegs als Inbegriff jener Weisheit, mit der sie bei den Philosophen
kolportiert werden. Das Panorama der Moralen, die als revitalisierte Allerwelts-
einsichten unter die „Moral als Furchtsamkeit“ subsumiert werden, reicht da-
bei von schroff asketischen Formen des Leidenschaftsverzichts in der Stoa und
von Spinozas Affekt-Verzicht über Aristoteles’ pEOOTp^-Ethik bis hin zur Affekt-
Lüsternheit bei Goethe und Hafis - ausgeklammert bleibt jedoch just jene Leh-
re, der in der zeitgenössischen philosophiehistorischen Literatur nachgesagt
wurde, sie sei von Furchtsamkeit bestimmt, nämlich die Ethik Epikurs. Von ihr
heißt es beispielsweise in Wilhelm Bauers Geschichte der Philosophie für gebil-
dete Leser: „Niemand aber wird behaupten, daß sie ein sittliches Gefühl befrie-
digen kann; es ist eine Moral nach dem Sinne des gutmüthigen, oberflächli-
chen Lebemannes, und bei Leuten dieser Art auch stets beliebt gewesen. Auch
hat sie offenbar den Charakter der Furchtsamkeit; denn sie verbietet, sich der
Lust ohne Furcht vor den Folgen zu überlassen.“ (Bauer 1876, 157) Dass die
Entstehung von Moral in der menschlichen Gattungsgeschichte wesentlich
der Furcht geschuldet sei, ist eine Auffassung, für die N. etwa in Herbert
Spencers Thatsachen der Ethik vielfältige Belege hat finden können (vgl.
Spencer 1879, 53 f.; 127-129 u. 140; dazu auch Fornari 2009, 161-164). Die
philosophischen Moralen sind nach JGB 198 aus der Furcht vor dem Tier im
Menschen selbst geboren; sie helfen, dieses Tier und seine Gefährlichkeit in
Schach zu halten.
118, 20-22 jene Gleichgültigkeit und Bildsäulenkälte gegen die hitzige Narrheit
der Affekte, welche die Stoiker anriethen und ankurirten] Der Ausdruck der
„Bildsäulenkälte“ bezieht sich unmittelbar auf eine Stelle bei Diogenes Laerti-
 
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