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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0562
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542 Jenseits von Gut und Böse

Der athentische Politiker und Heerführer Alkibiades (ca. 451-404 v. Chr.),
Schüler des Sokrates (vgl. zu Alkibiades’ Rolle in Platons Symposion und deren
Spiegelung bei N. Müller 2005, 208 f.), hat sich im Peloponnesischen Krieg
nicht nur mit der für Athen katastrophalen Sizilienexpedition hervorgetan,
sondern auch als Überläufer nach Sparta, bevor er ins persische Exil gehen
musste. Auch die spätere Rückkehr nach Athen war nicht von Dauer - gewiss
zählt er zu den „Unfassbaren und Unausdenklichen“ (121, 11), auf die „Gegen-
satz und Krieg“ als „Lebensreiz“ wirken (121, 5 f.) -, was N. in seiner Zeit als
Philologe noch nicht zu einer wohlwollenden Beurteilung veranlassen konnte:
„Sparta und Athen liefern sich an Persien aus, wie es Themistokles und Alcibi-
ades gethan haben; sie verrathen das Hellenische, nachdem sie den edelsten
hellenischen Grundgedanken, den Wettkampf, aufgegeben haben“ (CV 5, KSA1,
792, 20-23).
Nach seinem späterem Bekunden fand N. in Shakespeares The Tragedy of
Julius Caesar (1599) die Gestalt des römischen Politikers Gaius lulius Caesar
(100-44 v. Chr.) auf unvergleichliche Weise dargestellt (vgl. NK KSA 6, 287, 1-
26). Auch Caesar lebte wie Alkibiades und Kaiser Friedrich II. (1193-1250) in
einem „Auflösungs-Zeitalter“ (120, 24). N.s Faszination durch den als freigeis-
tig und religionskritisch gerühmten Staufen-Herrscher ist im Spätwerk stark
ausgeprägt, vgl. NK KSA 6, 250, 8-11 u. NK KSA 6, 340, 24-30. Jacob Burck-
hardt hat in ihm zwar eine Initialgestalt der Moderne gesehen (Burckhardt
1869b, 3), vor allem aber auch einen diktatorischen Machtmenschen, der sein
Misstrauen weckte, während für N. der Kaiser gerade die ideale Projektionsflä-
che eigener Machtphantasien werden konnte. Den Universalkünstler und Uni-
versalwissenschaftler Leonardo da Vinci (1452-1519), im „Auflösungs-Zeitalter“
des Übergangs von Mittelalter zu Neuzeit angesiedelt, stellte N. in NL 1885,
KSA 11, 34[148], 470, 12-14 (entspricht KGW IX 1, N VII 1, 95, 8-12) mit den in
JGB 200 Genannten zusammen, als er schrieb, „daß Caesar Tiefe hatte: insglei-
chen vielleicht jener Hohenstaufe Friedrich der Zweite: sicherlich Leonardo da
Vinci“. Bald anschließend heißt es: ,,L(eonardo} da Vinci hat vielleicht allein
von jenen Künstlern einen wirklich über christlichen Blick gehabt. Er kennt
,das Morgenland4, das innewendige so gut als das äußere. Es ist etwas Über-
Europäisches und Verschwiegenes an ihm, wie es Jeden auszeichnet, der einen
zu großen Umkreis von guten und schlimmen Dingen gesehn hat.“ (NL 1885,
KSA 11, 34[149], 471, 10-15, entspricht KGW IX 1, N VII 1, 1-12.) Zu den für N.
hier einschlägigen französischen Quellen siehe Campioni 2009, 189 f.; zu N.s
Leonardo-Deutung allgemein Seybold 2011, 67-69.
Das Ende von JGB 200 dient Schrift 2000, 229 f. als Beleg dafür, dass N.
sowohl den schwachen als auch starken Menschen habe aus „Auflösungs-Zeit-
altern“ hervorgehen sehen, und Schrift identifiziert diese Zeitalter zugleich mit
 
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