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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0569
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Stellenkommentar JGB 202, KSA 5, S. 124-125 549

124, 2-13 Sagen wir es sofort noch einmal, was wir schon hundert Mal gesagt
haben: denn die Ohren sind für solche Wahrheiten — für unsere Wahrheiten —
heute nicht gutwillig. Wir wissen es schon genug, wie beleidigend es klingt, wenn
Einer überhaupt den Menschen ungeschminkt und ohne Gleichniss zu den Thie-
ren rechnet; aber es wird beinahe als Schuld uns angerechnet werden, dass
wir gerade in Bezug auf die Menschen der „modernen Ideen“ beständig die Aus-
drücke „Heerde“, „Heerden-Instinkte“ und dergleichen gebrauchen. Was hilft es!
Wir können nicht anders: denn gerade hier liegt unsre neue Einsicht. Wir fanden,
dass in allen moralischen Haupturtheilen Europa einmüthig geworden ist] Eine
erste Fassung in W I 4 lautete: „Ich habe eine Entdeckung gemacht, aber sie
ist nicht erquicklich: sie geht wider unseren Stolz. Wie frei wir nämlich uns
auch schätzen mögen, wir freien Geister - denn wir sind frei ,unter uns‘ - es
giebt ein Gefühl auch in uns, das beleidigt wird, wenn Einer den Menschen
ungeschminkt zu den Thieren rechnet: es ist beinahe eine Schuld, es wird der
Entschuldigung bedürfen, daß ich - in Bezug auf uns beständig von ,Heerden‘,
,Heerdeninstinkten‘ und dergleichen reden muß. Aber hier liegt meine Entde-
ckung; ich fand nämlich, daß in allen moralischen Urtheilen“ (KSA 14,
360). Zu den „modernen Ideen“ siehe NK 23, Tl-79.
124.14 f. man weiss ersichtlich in Europa, was Sokrates nicht zu wissen mein-
te] Vgl. Platon: Apologie des Sokrates 21a-22a.
124.15 f. und was jene alte berühmte Schlange einst zu lehren verhiess, — man
„weiss“ heute, was Gut und Böse ist] Vgl. Genesis 3,1-5: „Und die Schlange war
listiger, denn alle Thiere auf dem Felde, [...] und sprach zu dem Weibe: [...] Ihr
werdet mit nichten [sic] des Todes sterben; Sondern [sic] GOtt weiß, dass, wel-
ches Tages ihr davon esset, so werden eure Augen aufgethan, und werdet seyn
wie GOtt, und wissen, was gut und böse ist“ (Die Bibel: Altes Testament 1818,3).
125,1-126, 3 die demokratische Bewegung macht die Erbschaft der christ-
lichen. Dass aber deren Tempo für die Ungeduldigeren, für die Kranken und Süch-
tigen des genannten Instinktes noch viel zu langsam und schläfrig ist, dafür
spricht das immer rasender werdende Geheul, das immer unverhülltere Zähne-
fletschen der Anarchisten-Hunde, welche jetzt durch die Gassen der europäischen
Cultur schweifen: anscheinend im Gegensatz zu den friedlich-arbeitsamen Demo-
kraten und Revolutions-Ideologen, noch mehr zu den tölpelhaften Philosophas-
tern und Bruderschafts-Schwärmern, welche sich Socialisten nennen und die
„freie Gesellschaft“ wollen, in Wahrheit aber Eins mit ihnen Allen in der gründli-
chen und instinktiven Feindseligkeit gegen jede andre Gesellschafts-Form als die
der autonomen Heerde (bis hinaus zur Ablehnung selbst der Begriffe „Herr“
und „Knecht“ — ni dieu ni maitre heisst eine socialistische Formel — ); Eins
 
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