Stellenkommentar JGB 204, KSA 5, S. 127 559
ist - obschon man zugestehen mag, dass Philosophen wie Platon oder Aristote-
les durch ihre begrifflichen Innovationen das abendländische Wirklichkeits-
verständnis tief geprägt haben. Und doch sind die Philosophen als Gesetzgeber
eine Wunschprojektion (vgl. JGB 211, KSA 5, 145, 14-18). Jedenfalls ist die
Bringschuld der „neuen Philosophen“ gewaltig. So lässt sich das Sechste
Hauptstück, dessen Titel-„Wir“ sich gelehrt-bescheiden gibt, auch als Redukti-
on dieser Bringschuld lesen, denn dieses „Wir“ nimmt für sich nicht in An-
spruch, das enorme Leistungsprogramm zu erfüllen und damit die Hypothek
auf eine bessere Zukunft abzutragen. Es vermehrt nur die Hoffnung auf Zu-
kunftsphilosophen, vollzieht aber noch nicht die Umwertung, von der JGB 203
ausdrücklich spricht.
Das Dasein der Zukunftsphilosophen ist entschieden politisch. Sie werden
nicht einfach als markige Begriffspräger, sondern als Gestalter einer künftigen
gesellschaftlichen Ordnung in Aussicht gestellt. Indes wird das Profil der künf-
tigen Größe und ihrer Sachwalter im Sechsten Hauptstück nicht recht plas-
tisch. Während nach Kants Grundlegung zur Metaphysik der Sitten die Vernunft
vor aller Erfahrung im Menschen gesetzgebend sein sollte, stellt das Sechste
Hauptstück nur wenige philosophische Gesetzgeber der Gesetzgeberin Ver-
nunft in uns allen entgegen: Gesetzgeber-Sein zeichnet das große Individuum
aus. Das Sechste Hauptstück untergräbt das Selbstverständnis der philosophi-
schen Wissenschaft, wie sie im 19. Jahrhundert aufkam und wie sie sich im
20. Jahrhundert festigte. Es enthält eine Fundamentalkritik der Philosophie als
Wissenschaft - als einer Disziplin, die sich den wissenschaftlichen Wertungs-
weisen unterworfen und damit demokratischer Gesinnung gemein gemacht
hat. Darin wird schmerzlich die Belanglosigkeit und die Impotenz akademi-
scher Philosophie enthüllt. Die Gegenrede reicht bei N. viel weiter als Schopen-
hauers berühmte Philosophenschelte (vgl. NK ÜK UBIII SE). Sie nötigt Philoso-
phietreibende dazu, sich und die Philosophie neu zu erfinden.
Zum Aufbau des Sechsten Hauptstücks siehe auch Nehamas 1988, 54 u.
Sommer 2014g, zur Radikalisierung des philosophischen Rollenprofils NK
KSA 6, 320, 22-321, 6. Einige Vorarbeiten aus JGB 204 bis 212 stammen aus den
Nachlassheften W15 (JGB 209) und WI 6, die nach KSA 14, 30 auf den Sommer
1885 datiert werden, während JGB 213 auf eine erste Fassung in W I 2 zurück-
greift und damit schon ins Jahr 1884 gehört. Die Basis für das Ende des Sechs-
ten Hauptstückes war also gelegt, bevor der Vorbau über die Gelehrten dazu-
kam.
204.
JGB 204 erweckt eingangs den Eindruck, gerade „heute“ (129, 8) vollziehe sich
die „Rangverschiebung“ zwischen Wissenschaft und Philosophie. Im Fortgang
ist - obschon man zugestehen mag, dass Philosophen wie Platon oder Aristote-
les durch ihre begrifflichen Innovationen das abendländische Wirklichkeits-
verständnis tief geprägt haben. Und doch sind die Philosophen als Gesetzgeber
eine Wunschprojektion (vgl. JGB 211, KSA 5, 145, 14-18). Jedenfalls ist die
Bringschuld der „neuen Philosophen“ gewaltig. So lässt sich das Sechste
Hauptstück, dessen Titel-„Wir“ sich gelehrt-bescheiden gibt, auch als Redukti-
on dieser Bringschuld lesen, denn dieses „Wir“ nimmt für sich nicht in An-
spruch, das enorme Leistungsprogramm zu erfüllen und damit die Hypothek
auf eine bessere Zukunft abzutragen. Es vermehrt nur die Hoffnung auf Zu-
kunftsphilosophen, vollzieht aber noch nicht die Umwertung, von der JGB 203
ausdrücklich spricht.
Das Dasein der Zukunftsphilosophen ist entschieden politisch. Sie werden
nicht einfach als markige Begriffspräger, sondern als Gestalter einer künftigen
gesellschaftlichen Ordnung in Aussicht gestellt. Indes wird das Profil der künf-
tigen Größe und ihrer Sachwalter im Sechsten Hauptstück nicht recht plas-
tisch. Während nach Kants Grundlegung zur Metaphysik der Sitten die Vernunft
vor aller Erfahrung im Menschen gesetzgebend sein sollte, stellt das Sechste
Hauptstück nur wenige philosophische Gesetzgeber der Gesetzgeberin Ver-
nunft in uns allen entgegen: Gesetzgeber-Sein zeichnet das große Individuum
aus. Das Sechste Hauptstück untergräbt das Selbstverständnis der philosophi-
schen Wissenschaft, wie sie im 19. Jahrhundert aufkam und wie sie sich im
20. Jahrhundert festigte. Es enthält eine Fundamentalkritik der Philosophie als
Wissenschaft - als einer Disziplin, die sich den wissenschaftlichen Wertungs-
weisen unterworfen und damit demokratischer Gesinnung gemein gemacht
hat. Darin wird schmerzlich die Belanglosigkeit und die Impotenz akademi-
scher Philosophie enthüllt. Die Gegenrede reicht bei N. viel weiter als Schopen-
hauers berühmte Philosophenschelte (vgl. NK ÜK UBIII SE). Sie nötigt Philoso-
phietreibende dazu, sich und die Philosophie neu zu erfinden.
Zum Aufbau des Sechsten Hauptstücks siehe auch Nehamas 1988, 54 u.
Sommer 2014g, zur Radikalisierung des philosophischen Rollenprofils NK
KSA 6, 320, 22-321, 6. Einige Vorarbeiten aus JGB 204 bis 212 stammen aus den
Nachlassheften W15 (JGB 209) und WI 6, die nach KSA 14, 30 auf den Sommer
1885 datiert werden, während JGB 213 auf eine erste Fassung in W I 2 zurück-
greift und damit schon ins Jahr 1884 gehört. Die Basis für das Ende des Sechs-
ten Hauptstückes war also gelegt, bevor der Vorbau über die Gelehrten dazu-
kam.
204.
JGB 204 erweckt eingangs den Eindruck, gerade „heute“ (129, 8) vollziehe sich
die „Rangverschiebung“ zwischen Wissenschaft und Philosophie. Im Fortgang