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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0602
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582 Jenseits von Gut und Böse

Willensschwäche im Gegensatz zum russischen Willenspotential. Dagegen lie-
ße sich - durchaus auch auf dem Hintergrund der Erfahrung des 20. Jahrhun-
derts - fragen, ob es wirklich Europas Problem ist, dass es keinen geeinten
und einen Willen hat. Man könnte dagegenhalten, dass gerade die Nicht-Ein-
barkeit, die Polyvalenz und Polymorphie der einzelnen menschlichen Willen
die bei N. immer wieder angemahnte Schöpferkraft hervorbringt. Wäre nicht
eher Skepsis als „Sinn für Gewaltenteilung“ (Marquard 1994, 11, vgl. Sommer
2005a) tunlich, statt Wunschprojektionen vom einen und unteilbaren Willen
Europas nachzuhängen?
Jedenfalls ist auffällig, dass gerade die einschlägigen Passagen aus JGB
208 in Globalisierungsdiskussionen jenseits der N.-Forschung gerne zitiert wer-
den (vgl. z. B. Beck 1997, 125).
209.
In NL 1885, KSA 11, 34[157], 473 (entspricht KGW IX 1, N VII 1, 85 f.) wird wie
in JGB 209 der ,,innerliche[...] verwegene[...] Scepticismus“ (KSA 11, 473, 22)
erörtert, dort jedoch wird er im Unterschied zum Publikationstext auf das pro-
testantische Pfarrhaus zurückgeführt. Eine frühere Fassung von JGB 209 findet
sich in KGW IX 4, W I 5, 20 u. 18 (hier in der ersten, unkorrigierten Version
wiedergegeben): „Jener unbedenkliche Enthusiast für schöne großgewachsene
Grenadiere, welcher, als König von Preußen, einem militärischen und skepti-
schen Genie — und damit im Grunde dem neuen, jetzt siegreichen Typus des
Deutschen — zum Dasein verhalf, der halb tolle, halb räthselhafte Vater Fried-
rich des Großen hatte in Einem Punkte selber die Ahnung des Genie’s: er wuß-
te, woran es damals in Deutschland fehlte, und welcher Mangel hundert Mal
wichtiger und dringlicher war als der Mangel an Bildung und ,Formen4, oder
gar französischer Bildung Torrn'' und Freigeisterei: r- sein Haß gegen den ju-
gendlichen Friedrich kam aus einem rsehr gesunden'' tiefen Instinkte.'' Männer
fehlten; und er argwöhnte im letzten Winkel seines Herzens rzu seinem tiefsten
Verdrusse-1, daß auch sein skeptischer Sohn nicht ,Manns genug4 sei. Darin
täuschte er sich, das Vorurtheil über die Scepsis betrog ihn: er wußte nicht, als
der Mensch einer bäurischen r(oder korporalmäßigen)'' Beschränktheit, daß es
zwei entgegengesetzte Arten der Scepsis giebt, die Scepsis der Schwäche - und
die Scepsis des Muthes u Übermuths. An die erste dachte er, als er seinen Sohn
dem französischen Atheismus, rdem esprif und der aesthetischen Schwelgerei
rdes esprif hingegeben fand: - vielleicht war ''wirklich'' die Gefahr ''eines'' und
der Umschlags nach dieser Seite hin nicht unbeträchtlich. Aber die zweite Art
Scepsis, eng verwandt mit dem Genie für den Krieg und die Eroberung war es,
welche hier ihren ersten Einzug in Deutschland hielt, eine neue Art verwegener
 
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